Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
außen an sie herandrangen. Die Stimmen der Menschen hallten als wildes Durcheinander an ihr Ohr, ein singendes Auf und Ab, das sie faszinierte. Sie überlegte, ob es schwierig wäre, Chinesisch zu lernen, wenn sie erst eine Weile an den Klang gewohnt war.
Die Sänftenträger setzten die Trage ab, und die Vorhänge wurden beiseitegeschoben. Christopher reichte Anna seine Hand und war ihr beim Aussteigen behilflich.
„Willkommen in meinem bescheidenen Heim!“
Anna stand im Innenhof eines großzügig angelegten Hauses. In der Mitte wuchs ein Pflaumenbaum. Im ersten Stock führte eine Balustrade rundherum um das Gebäude. Das kunstvoll verzierte Geländer mit golden unterlegten Intarsien und die Größe des Anwesens waren alles andere als schlicht.
Anna warf ihm einen geringschätzigen Seitenblick zu. „Ich nenne das eher üppig und prachtvoll.“
Christopher lachte. „Eine chinesische Eigenart“, erklärte er. „Lobe nie, sondern spiele deine Fähigkeiten und deinen Besitz herunter.“
Er führte Anna in das Innere des Hauses. Die Ausstattung ähnelte entfernt dem asiatischen Stil, den Anna aus England kannte. Die Möbel waren zierlich und aus dunklem Holz, und auf den Sitzmöbeln lagen rote Polster. In einer Ecke stand eine flache Schale mit Sand, in der qualmende Stäbchen steckten, die einen würzigen Duft verbreiteten, der an Sandelholz erinnerte. Neben dem Gefäß befand sich die sitzende Figur eines stark übergewichtigen Glatzkopfes, der ein zufriedenes Lächeln zur Schau stellte.
Kit deutete auf die Ecke. „Der Hausaltar“, erklärte er.
„Ein Altar? Wo sind das Kreuz, die Kerze, das Weihwasserfässchen?“
Kit lachte. „Bis China haben es die Jesuiten zwar geschafft, doch noch ist man hier Anhänger des Taoismus und Buddhismus.“
Christopher brachte sie in ein Schlafgemach im ersten Stock.
„Ich hoffe, es gefällt dir.“
Die Möbel waren aus glänzendem schwarzen Holz, auf dem Boden lagen Teppiche, die Ähnlichkeit mit gewebtem Stroh hatten. Und überall waren Stoffe, rote Seidenkissen, weiß schimmernde Kordeln, goldgemusterte Vorhänge.
„Deine Kleider wurden bereits aufgeräumt. Wenn etwas fehlen sollte, lass es Bao wissen. Sie steht dir als Zofe zur Verfügung.“
Christopher wandte sich ab, doch Anna hielt ihn zurück.
„Wo gehst du hin?“
„Ich erledige einige dringende Geschäfte. Aber ich verspreche dir, so bald wie möglich zurückzukehren!“
Enttäuscht sah Anna ihm nach. Alles hier war neu und unbekannt, und die Angst vor der Einsamkeit drückte auf ihr Gemüt. Das Abenteuer, das ihr auf dem Schiff noch so verlockend erschienen war, war nun der Realität gewichen, und Anna fand keinen Gefallen mehr daran.
Quälende Zeit des Wartens verstrich. Anna wanderte durch den Raum, berührte die Kissen, die Möbel und sah durch das Fenster auf den Innenhof.
Long Tian stand dort, aufrecht und stolz wie ein General, und erteilte der Dienerschaft Anweisungen. Nirgendwo war auch nur der kleine Finger eines Europäers zu sehen.
Seufzend ließ sich Anna auf einem Kissen nieder und schloss ihre Augen.
Fremdartige Musik erklang. Dann ein gedämpftes Lachen, eine sanfte Frauenstimme sang. Anna lauschte. Die Musik kam aus diesem Haus. Neugierde erwachte in Anna. Wer mochte die Urheberin sein? Eine Dienerin? Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die Frau schien von Sehnsucht zu singen.
Ein leises Klicken schreckte Anna auf, und sie erkannte Bao.
„Bao!“ Anna lächelte Bao an. „Geht es dir gut?“
Verwirrt starrte Bao Anna an. „Fühle mich wohl“, entgegnete Bao.
In der Zeit der Überfahrt hatten die beiden Frauen viel Zeit gehabt, Englisch zu üben. Das Chinesisch hatten sie bis auf ein paar Floskeln nicht vertieft, als sich herausstellte, dass Anna komplett unbegabt war.
„Bao, hörst du den Gesang? Wovon singt die Frau in dem Lied?“
Bao legte ihren Kopf schief und lächelte. „Tofu machen. Sie erzählt von Tofu machen.“
„Tofu?“
Bao machte begleitende Gesten. „Essen“, erklärte die Chinesin.
„Ich verstehe.“ Anna nickte. „Wer ist die Sängerin? Eine der Dienerinnen?“
Bao setzte ein Gesicht wie ein verschrecktes Kaninchen auf. „Ja“, presste sie hervor. „Sein Dienerin.“
Anna konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Bao ihr etwas verheimlichte.
Mehrere Tage vergingen, und Christopher hatte sein Versprechen nicht gehalten. Wann immer sie nach ihm fragte, bekam sie von Bao oder Long Tian zu hören, er sei früh aus dem
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