Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
Haus gegangen und würde erst spätabends zurück erwartet. Von der Stadt hatte Anna noch nichts gesehen. Den Weg vom Hafen zum Haus hatte sie im Tragestuhl zurückgelegt, vor der Stadt verborgen hinter Seidenschleiern, und von einer Erkundungstour rieten ihr alle dringend ab.
Frustriert lief Anna den Flur hinunter zum Speisesaal. Eine weitere einsame Mahlzeit erwartete sie. Bao ging vor ihr her.
Unerwartet schob sich der Vorhang vor einer Türöffnung beiseite, und eine zierliche Frau trat heraus.
Einen Moment lang erstarrten beide Frauen. Das Haar der Chinesin schimmerte Blauschwarz im Tageslicht, und ebensolche Brauen wölbten sich über mandelförmigen Augen. Ihre Haut wirkte rein und samtig wie eine Rosenblüte. Das hochgeschlossene Kleid, das sie trug, lag eng an ihrer Taille und betonte ihre kleinen, festen Brüste. Sie schien keine Dienerin zu sein, zu selbstbewusst waren ihr Blick und ihre Körperhaltung, und ihre Robe zeugte von Geschmack und Qualität.
Ohne nachzudenken tat Anna, was sie für eine normale chinesische Begrüßung hielt: Sie warf sich vor der Chinesin auf den Boden.
Bao sog hörbar die Luft ein, und im selben Moment ahnte Anna, dass sie einen Fehler beging.
Die Dienerin war sofort bei Anna und zog sie hoch.
„ Taitai Anna, nein, nicht schicklich der Kotau!“
Die andere stand da und starrte überrascht und verwirrt auf Anna, die mit hochrotem Gesicht wieder auf die Beine kam.
Sie wagte kaum, der eleganten Chinesin in die Augen zu sehen. Als sie einen Blick riskierte, lächelte die Frau. Die Fremde neigte ihren Kopf und ging davon. Nach ein paar Schritten sah sie zurück und begann zu kichern.
Anna saß am Esstisch. Der Appetit war ihr vergangen. Sie wollte lieber nicht wissen, wie schlimm ihr Fauxpas gewesen war. Wenn sie nun eine Blutfehde ausgelöst hatte?
Long Tian kam herein und stellte eine dampfende Schüssel vor Anna.
Er wandte sich zum Gehen.
„Long Tian, ich bin eben mit Bao einer Frau begegnet.“
Der kleine Chinese nickte, offenbar war er bereits von Bao unterrichtet worden. „Macht Euch keine Gedanken, Anna Drysdale. Der Kotau hätte Euch zugestanden. Nicht Lian.“
Anna legte ihre Handflächen aneinander. „Lian? Ist das ihr Name? Wohnt sie hier?“
Long Tian zögerte. „Sie lebt im Haus. Sie ist niemand, der Eurer Aufmerksamkeit würdig ist.“
„Meiner Aufmerksamkeit nicht würdig?“, echote Anna. „Wenn sie ebenfalls hier lebt, geht sie mich wohl etwas an! Was sind ihre Aufgaben?“
Der Diener näherte sich rückwärts der Tür, und Anna wusste, dass er einen eleganten Abgang plante, um ihre Fragen nicht beantworten zu müssen.
Sie sprang auf und schob sich zwischen ihn und die Tür.
„Keine Ausflüchte! Wer ist Lian?“
Long Tian seufzte, lange und von Herzen kommend. „Ich habe laoye gesagt, er müsse Euch von Anfang an die Wahrheit sagen oder die Frauen fortschaffen lassen.“
„Frauen?“ Anna fiel es schwer zu atmen.
„Setzt Euch bitte. Ich muss Euch etwas erklären.“
Anna setzte sich und wusste schon jetzt, dass ihr Long Tians Ausführungen nicht gefallen würden.
„Reiche Männer pflegen mehrere Konkubinen neben ihren Ehefrauen zu haben.“
„Was?“ Annas Stimme klang gegen ihren Willen schrill.
Hatte Christopher sie angelogen? Ehefrauen? War Lian Christophers chinesische Ehefrau? Nur zu deutlich hatte sie Lians Gesicht vor Augen. Eine schöne Frau in Schanghai, eine Frau in England, welcher Mann hätte nicht gerne in jedem Hafen eine andere Geliebte?
„ Laoyes Konkubinen leben hier im Haus. Wie es üblich ist.“
Konkubinen? Das wurde ja immer besser! Vielleicht sollte sie Christophers Männlichkeit mit einem Küchenmesser zurechtstutzen.
Im nächsten Moment wurde ihr bewusst, wie unsinnig ihre Gedanken waren. Sie liebte Christopher viel zu sehr, um ihm etwas anzutun. Zu sehr, um an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln. Mehr als einmal hatte er ihr bewiesen, welch gutes Herz er besaß.
Ihre Wut verflog augenblicklich. Die Konkubinen hatte er bereits vor ihr gehabt, und sie waren erst wenige Tage in Schanghai. Sie wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen. Und sie wäre keine Frau, wenn ihr nicht sofort eingefallen wäre, wie sie weiter vorzugehen hatte. Streit und Vorwürfe brächten Christopher nur gegen sie auf. Die Konkubinen würden ebenfalls Stellung beziehen, und die würde garantiert nicht hinter ihr sein. Allenfalls mit gezückten Messern. Sie zweifelte nicht, dass Konkubinen ebenso wie die Kurtisanen und
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