Timbuktu
rauhbeiniger Glücksritter, ein einzigartiger Zweibeiner, der sich die Regeln nach Belieben zurechtbog. Eines Morgens Mitte April standen sie einfach auf und zogen los, machten sich auf ins große Unbekannte und wurden bis zum Tag vor Halloween nicht mehr in Brooklyn gesehen. Konnte sich ein Hund etwas Besseres wünschen? Mr. Bones hielt sich für das glücklichste Wesen auf Gottes weiter Erde.
Doch nach wie vor gab es die Überwinterungen, die Rückkehr ins alte Heim mit den unvermeidlichen Schattenseiten des Lebens hinter verschlossenen Türen: den langen Monaten der zischenden Heizkörper, des höllischen Lärms von Staubsauger und Mixer, des Dosenfutter-Einerleis. Aber sobald sich Mr. Bones erst wieder umgewöhnt hatte, konnte er sich eigentlich nicht mehr beklagen. Schließlich war es kalt draußen, und er teilte die Wohnung mit Willy; so schlecht konnte das Leben doch nicht sein, wenn er und sein Herrchen zusammen waren? Selbst Mrs. Gurevitch nahm sich an die Kandare. Nachdem Mr. Bones stubenrein geworden war, schien sich ihr Verhalten ihm gegenüber deutlich gebessert zu haben; zwar meckerte sie noch immer ständig herum, er würde überall seine Haare verstreuen, aber ihm war klar, daß sie das nicht so ganz ernst meinte. Manchmal durfte er sogar neben ihr auf dem Wohnzimmersofa sitzen, und sie strich ihm sanft mit der einen Hand über den Kopf, während sie mit der anderen ihre Illustrierte umblätterte, und mehr als einmal schüttete sie ihm sogar ihr Herz aus und redete sich all ihre Sorgen um ihren eigensinnigen, unbedarften Sohn von der Seele. Wieviel Kummer er ihr bereitete, und wie traurig es doch war, daß so ein netter Junge so verrückt im Kopf sein konnte. Aber lieber ein halber Sohn als gar keiner, varschtaist? Und was blieb ihr denn schon anderes übrig, als ihn weiter zu lieben und zu hoffen, daß sich noch alles zum Guten wenden würde? Man würde nie zulassen, daß er auf einem jüdischen Friedhof begraben wurde - nicht mit diesem komischen Ding auf seinem Arm, auf keinen Fall -, und schon zu wissen, daß er nicht neben seiner Mutter und seinem Vater zur letzten Ruhe gebettet werden würde, war noch ein Kummer, noch eine Sorge mehr, die sich ihr aufs Gemüt legte, aber das Leben gehörte nun mal den Lebenden, oder?, und Gott sei Dank waren sie beide bei guter Gesundheit - dreimal auf Holz geklopft -, na, jedenfalls bei ziemlich guter, so alles in allem, und das allein war ja schon ein Segen, dafür konnte man schon dankbar sein, Gesundheit konnte man nicht im Ramschladen kaufen, oder?, dafür gab’s keine Werbung im Fernsehen, egal, ob in Farbe oder Schwarzweiß. Das Leben stand nicht zum Verkauf, und wenn erst der Tod an der Tür klopfte, konnten alle Nudeln in China nicht verhindern, daß er sie öffnete.
Mr. Bones stellte bald fest, daß die Unterschiede zwischen Mrs. Gurevitch und ihrem Sohn viel kleiner waren, als er zuerst angenommen hatte. Gewiß, sie stritten sich oft, und sie rochen auch verschieden - der eine ganz nach Dreck und Männerschweiß, die andere nach einer Mischung aus Fliederseife, Ponds Gesichtscreme und Pfefferminz-Haftcreme für die dritten Zähne -, aber wenn es ums Reden ging, nahm es die achtundsechzigjährige Momsan locker mit jedem auf, und sobald sie in einen ihrer schier endlosen Monologe verfiel, wurde einem schnell klar, warum ihr eigenes Kind eine so meisterhafte Quasselstrippe geworden war. Sie mochten über unterschiedliche Themen sprechen, aber ihre Sprechweise war nahezu dieselbe: ein pausen- und atemloser Taumel von wilden Assoziationen, Abschweifungen und Randbemerkungen, und dazu ein riesiges Repertoire an nonverbalen Klangeffekten wie Zungenschnalzen, Glucksen und gutturales Luftholen. Von Willy lernte Mr. Bones eine Menge über Humor, Ironie und Metaphernreichtum. Von Momsan erfuhr er wichtige Dinge über das Leben. Sie klärte ihn über Angst und Zores auf, über das Gewicht der Welt, das einem auf den Schultern lastete, und, was am wichtigsten war, darüber, daß es guttat, sich ab und zu richtig auszuheulen.
Als Mr. Bones an jenem trüben Sonntag in Baltimore neben seinem Herrchen dahintrottete, kam es ihm seltsam vor, daß er gerade jetzt an all diese Dinge dachte. Warum die alte Fährte bei Mrs. Gurevitch wiederaufnehmen, fragte er sich. Warum sich an die langweiligen Winter in Brooklyn erinnern, wo es doch so viele schönere und glücklichere Erinnerungen gab, in denen er schwelgen konnte? An Albuquerque zum Beispiel und ihren glückseligen
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