Timbuktu
die Augen offen, wirst du dich stets verlaufen.
Verschenk dein letztes Hemd, verschenk dein Gold,
Gib deine Schuhe dem ersten Fremden, der dir begegnet.
Aus nichts wird viel werden,
Wenn du den Jitterbug tanzt...
Literarische Bemühungen waren eine Sache, aber wie man sich draußen in der Welt verhielt, eine ganz andere. Willys Gedichte mochten sich verändert haben, aber das beantwortete noch nicht die Frage, ob Willy sich verändert hatte. War er wirklich ein neuer Mensch geworden, oder war der Sprung ins Heiligendasein nur eine vorübergehende Anwandlung? Hatte er sich in die Ecke manövriert, oder war an seiner Wiedergeburt doch etwas mehr dran als nur die Tätowierung auf seinem rechten Bizeps und der alberne Spitzname, den er sich so begeistert zugelegt hatte? Die ehrliche Antwort darauf müßte wohl lauten: ja und nein, vielleicht, ein wenig von beidem. Denn Willy war schwach, und Willy war oft streitsüchtig, und Willy neigte dazu, Dinge zu vergessen. Immer wieder plagten ihn geistige Aussetzer, und wenn der Flipper in seinem Kopf zu sehr geschubst wurde und tütete, war einfach alles möglich. Wie konnte einer von seiner Sorte verkünden, er würde den Mantel der Reinheit überstreifen? Er war nicht nur ein angehender Säufer und ein in der Wolle gefärbter Lügner mit paranoiden Zügen, sondern auch ein viel zu großer Scherzbold, als ihm gutgetan hätte. Sobald er mit dem Witzereißen anfing, löste sich der Weihnachtsmann in Luft auf und der ganze Herzchen- und Blümchen-Schmu gleich mit.
Aber man konnte nicht behaupten, er hätte es nicht versucht, und der Versuch an sich war schon mehr als die halbe Miete. Auch wenn er nicht immer die Erwartungen erfüllte, die er an sich stellte, hatte er zumindest ein Vorbild, dem er nacheifern konnte. In den seltenen Augenblicken, in denen es ihm gelang, seine fünf Sinne zusammenzunehmen und seine Exzesse in Sachen geistige Getränke zu beschränken, bewies er, daß er zu jedem Akt der Courage und des Großmuts fähig war. 1972 rettete er zum Beispiel unter großer Gefahr für sich selbst ein vierjähriges Mädchen vor dem Ertrinken. 1976 kam er einem einundachtzigjährigen Mann zu Hilfe, der auf der West 43rd Street in New York ausgeraubt wurde - und erhielt als Lohn für seine Mühen einen Messerstich in die Schulter und eine Kugel ins Bein. Mehr als einmal schenkte er einem Freund, dem es beschissen ging, seinen letzten Dollar, die Liebeskranken und Verzweifelten durften sich an seiner Schulter ausheulen, und im Lauf der Jahre redete er einem Mann und zwei Frauen den Selbstmord aus. Es gab auch feine Seiten in Willys Seele, und wenn sie zutage traten, vergaß man rasch die anderen Dinge, die ebenfalls in ihr schlummerten. Ja, Willy war eine heruntergekommene, durchgeknallte Nervensäge, aber wenn sein Kopf richtig funktionierte, war er ein Goldschatz, und jeder, der ihm über den Weg lief, wußte das.
Wann immer er mit Mr. Bones über diese frühen Jahre sprach, neigte Willy dazu, in den guten Erinnerungen zu schwelgen und die schlechten zu ignorieren. Aber wer könnte ihm verübeln, daß er die Vergangenheit in ein rosiges Licht tauchte? Das tun wir doch alle, ob Mensch oder Hund, und 1970 stand Willy in der Blüte seiner Jugend. Er war bei bester Gesundheit, hatte noch alle Zähne und zudem Geld auf der Bank. Aus der Lebensversicherung seines Vaters war eine kleine Summe für ihn beiseite gelegt worden, und als er zum einundzwanzigsten Geburtstag an sein Geld kam, hatte er für die nächsten knapp zehn Jahre immer etwas in der Tasche. Doch zum Segen des Geldes und der Gnade der Jugend kam noch der historische Augenblick, die Zeit damals, der Geist, der im ganzen Land herrschte, als Willy sein Landstreicherleben begann. Es wimmelte nur so von Aussteigern und jugendlichen Ausreißern, von langhaarigen Visionären, lebensuntüchtigen Anarchisten und zugekifften Außenseitern. Trotz seiner Eigenheiten fiel Willy unter ihnen kaum auf. Er war einfach nur ein weiterer Bekloppter in der Szene, und wohin ihn seine Wanderungen auch führten - ob nach Pittsburgh oder Plattsburgh, Pocatello oder Boca Raton -, stets fand er Anschluß an Gleichgesinnte. Jedenfalls behauptete er das, und Mr. Bones sah keinen Grund, ihm nicht zu glauben.
Nicht, daß es einen Unterschied gemacht hätte. Der Hund war nun schon lange genug auf der Welt, um zu wissen, daß gute Geschichten nicht immer wahr zu sein brauchten, und ob er sich entschied, die Geschichten zu glauben, die
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