Timbuktu
gebleckten Zähne, der zur Seite gelegte Kopf und noch hundert weitere winzige Dinge - alle Ausdruck eines Gedankens, Gefühls, Plans oder Triebs. Es war, als würde man eine neue Sprache lernen, fand Willy, als stieße man auf einen lange verlorengeglaubten Stamm von Primitiven und müsse nun deren rätselhafte Sitten und Gebräuche entschlüsseln. Nachdem er die ersten Hürden genommen hatte, faszinierte ihn vor allem das Rätsel des Augen-Nase-Paradoxons oder Sinneszensus, wie er es nannte. Willy war ein Mensch, und daher verließ er sich vor allem auf seine Augen, um die Welt zu begreifen. Mr. Bones war ein Hund, also so gut wie blind. Seine Augen halfen ihm nur, Formen zu unterscheiden, grobe Umrisse zu erkennen und zu begreifen, ob das Objekt oder Wesen, das vor ihm aufragte, eine Gefahr darstellte, vor der man weglaufen mußte, oder einen Freund, den man abschlabbern konnte. Für echte Erkenntnis, für einen direkten Zugriff auf die Wirklichkeit in all ihren vielschichtigen Erscheinungsformen war nur die Nase etwas wert. Was Mr. Bones von der Welt wußte, was immer er an Einsichten und Vorstellungen gewonnen oder an Leidenschaften erlebt hatte, hatte ihm sein Geruchssinn vermittelt. Zuerst traute Willy seinen Augen kaum. Die Begeisterung des Hundes für Gerüche schien grenzenlos, und wenn er erst einmal einen Duft gefunden hatte, der ihn interessierte, drückte er seine Nase mit derartiger Entschlossenheit und nicht zu bremsendem Enthusiasmus darauf, als gäbe es nichts anderes mehr auf der Welt. Seine Nüstern verwandelten sich in Saugstutzen und sogen die Gerüche auf wie ein Staubsauger Glassplitter, und manchmal, ziemlich oft sogar, wunderte sich Willy, daß der Bürgersteig unter dem wilden Ungestüm, mit dem Mr. Bones’ Schnauze zu Werke ging, keine Risse bekam. Der Hund, sonst das gehorsamste Wesen, wurde dickköpfig, wollte nicht mehr hören und schien sein Herrchen völlig zu vergessen; und wenn Willy an der Leine zog, bevor Mr. Bones gewillt war weiterzulaufen, bevor er den intensiven Duft eines Kothaufens oder einer Urinpfütze genau untersucht hatte, stemmte sich der Hund dagegen und wurde so starr und steif, daß Willy sich manchmal fragte, ob er nicht irgendwo in seinen Pfoten eine Drüse hatte, die auf Befehl Klebstoff absonderte.
Wie sollte man von alldem nicht fasziniert sein? Ein Hund hatte grob geschätzt etwa zweihundertzwanzig Millionen Geruchsrezeptoren, der Mensch hingegen nur schlappe fünf Millionen, und bei einem derartigen Ungleichgewicht war es nur logisch anzunehmen, daß die Welt, wie sie ein Hund wahrnahm, erheblich anders aussah als die des Menschen. Logik war zwar noch nie Willys Stärke gewesen, aber in diesem Fall trieb ihn die Liebe ebensosehr an wie die intellektuelle Neugier, und deshalb befaßte er sich intensiver mit dieser Frage als gewohnt. Was ging in Mr. Bones vor, wenn er etwas roch? Und, ebenso wichtig, warum roch er, was er roch? Genaue Beobachtung veranlaßte Willy zu dem Schluß, daß es im Grunde nur drei Themen gab, für die sich Mr. Bones interessierte: Futter, Sex und Neuigkeiten über andere Hunde. Ein Mann schlägt die Morgenzeitung auf, um herauszufinden, was seine Artgenossen treiben; ein Hund tut dasselbe mit der Nase und schnüffelt an Bäumen, Laternenpfählen und Feuermeldern, um herauszufinden, was die örtliche Hundebevölkerung so macht. Rex, der Rottweiler mit den scharfen Fangzähnen, hat seine Markierung an jenem Busch dort hinterlassen; Molly, die süße Cockerspanieldame, ist läufig; Roger, der Straßenköter, hat etwas Unverdauliches gefressen. Das leuchtete Willy schnell ein, darüber gab es keine Diskussionen. Komplizierter wurde es allerdings, wenn man zu begreifen versuchte, was so ein Hund fühlte. Kümmerte er sich nur um sich selbst, nahm er die Informationen nur deswegen auf, um den anderen Hunden immer einen Schritt voraus zu sein, oder ging es bei den wilden Schnüffelpartys um mehr als nur Taktik? Konnten sie auch Vergnügen bereiten? Erlebte ein Hund, der seinen Kopf in eine Mülltonne steckte, so etwas ähnliches wie jenen Schwindel, der einen Mann überfällt, wenn er seine Nase an den Hals einer Frau legt und einen Hauch von sündteurem französischem Parfüm wahrnimmt?
Das herauszufinden war unmöglich, aber Willy neigte doch zu dieser Vermutung. Warum wäre es sonst so schwierig gewesen, Mr. Bones von den Ursprüngen gewisser Gerüche wegzuzerren? Der Hund hatte seinen Spaß daran, das war der Grund. Er befand sich in
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