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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu
Autoren: Paul Auster
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sich den größten und verwirrendsten Schicksalsironien gegenübersah. Mr. Bones war zwar überrascht, sie jetzt zu hören, doch er versuchte, aus diesem plötzlichen emotionalen Wetterumschwung Mut zu schöpfen.
    Willy war mitten auf dem Bürgersteig stehengeblieben. Die ganze Nachbarschaft stank nach Armut und überfälliger Müllabfuhr, aber wo standen sie? Direkt vor dem hübschesten kleinen Haus, das Mr. Bones je gesehen hatte, ein Puppenhaus aus roten Ziegeln, mit grünen Lattenfensterläden, drei grünen Stufen und einer leuchtendweiß lackierten Tür. An der Wand hing eine Tafel. Willy beugte sich vor, kniff die Augen zusammen und versuchte zu lesen, was dort stand, und seine Stimme klang zunehmend nach texanischem Viehtreiber.
    »Zwei null drei, North Amity Street«, las er vor. »Hier wohnte Edgar Allan Poe von 1832 bis 1835. Geöffnet April bis Dezember, Mittwoch bis Samstag, zwölf bis fünfzehn Uhr fünfundvierzig.«
    Mr. Bones fand das ziemlich langweilig, aber was sollte er sich über den Enthusiasmus seines Herrchens beklagen? Willy schien lebhafter als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in den letzten zwei Wochen. Zwar folgte seinem Vortrag sogleich ein neuerlicher heftiger Hustenanfall (Auswurf, Luftschnappen, mit dem Fuß aufstampfen, während er sich am Fallrohr der Regenrinne festklammerte, als ginge es um sein Leben), aber er erholte sich schnell wieder, als der Anfall vorüber war.
    »Wir sind auf eine Goldader gestoßen, Partner«, sagte Willy und spuckte den letzten Rest Schleim und Lungengewebe aus. »Miss Beas Haus ist es zwar nicht, soviel steht fest, aber wenn’s nach mir geht, gibt’s keinen Ort auf der Welt, wo ich lieber wär als hier. Dieser Poe war mein Großvater, der Urahn von all uns Yankee-Schreibern. Ohne ihn gab’s weder mich noch die anderen. Gar keinen gab’s. Wir sind in Poelen, und das ist auch das Land, in dem meine verstorbene Ma geboren worden ist. Ein Engel hat uns hierhergeführt, und ich denk, ich werd mich ’ne Runde hinhocken und meinen Respekt bezeugen. Und ich wär Ihnen ziemlich dankbar, wenn Sie sich mir anschließen würden, Mr. Bones. So ist’s recht, hocken Sie sich zu mir, und ich ruh ’n bißchen mein Gestell aus. Um den Regen machen Sie sich mal keine Sorgen. Das sind nur ’n paar Tropfen, die werden uns schon nicht schaden.«
    Mit einem langen, mühseligen Grunzer ließ Willy sich zu Boden sinken. Es tat Mr. Bones in der Seele weh, das zu beobachten - all die Mühe, nur um sich ein paar Zentimeter zu bewegen -, und sein Herz wollte schier überlaufen vor Mitleid, als er sein Herrchen in diesem traurigen Zustand sah. Er war sich später nie sicher, woher er das so genau gewußt hatte, aber als er Willy auf den Bürgersteig sinken und sich mit dem Rücken an die Wand lehnen sah, war ihm klar, daß er nie wieder aufstehen würde. Dies war das Ende ihres Zusammenlebens. Die letzten
    Augenblicke waren gekommen, und es gab nichts weiter zu tun, als dazusitzen, bis das Lebenslicht in Willys Augen erlosch.
    Dabei war die Reise eigentlich gar nicht so schlecht verlaufen. Sie waren hergekommen, um nach der einen Sache zu suchen, und hatten eine andere gefunden, und am Ende zog Mr. Bones das, was sie gefunden hatten, dem, was sie gesucht hatten, vor. Sie waren nicht in Baltimore, sie waren in Polen. Durch einen Zufall, durch Glück oder göttliche Fügung hatte Willy es geschafft, nach Hause zu kommen. Er war an den Heimatort seiner Vorfahren zurückgekehrt, und nun konnte er in Frieden sterben.
    Mr. Bones hob das linke Hinterbein und kratzte sich hinterm Ohr. In der Ferne sah er einen Mann und ein kleines Mädchen laufen, aber er verschwendete keinen Gedanken an sie. Sie kamen oder gingen, und es spielte überhaupt keine Rolle, wer sie waren. Der Regen war stärker geworden, und der Wind fegte die Schokoriegelverpakkungen und Papiertüten über die Straße. Mr. Bones schnüffelte ein-, zweimal und gähnte dann grundlos. Nach einer Weile rollte er sich neben Willy auf dem Boden zusammen, seufzte tief und wartete darauf, was geschehen würde.

 
2
     
    Nichts geschah. Unendlich lang schien es so, als habe die ganze Nachbarschaft zu atmen aufgehört. Niemand kam, kein Auto fuhr vorbei, nicht ein einziger Mensch betrat oder verließ ein Haus. Es regnete heftig, genau wie Mr. Bones vorhergesagt hatte, doch dann ließ der Regen nach, verwandelte sich wieder in Nieselregen und hörte schließlich ganz auf. Während all dieser himmlischen Machenschaften rührte
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