Timeline: Eine Reise in die Mitte der Zeit
ein schräger, fünf Zentimeter langer Schnitt in der Haut, verklebt mit geronnenem Blut.
»Wie sieht's aus?« fragte er und musterte ihr Gesicht.
»Nur ein Schnitt.«
»Entzündet?«
»Nein, sieht sauber aus.«
Sie zog das Wams noch weiter herunter und sah weitere verfärbte Prellungen auf seinem Rücken, der Flanke und unter dem Arm. Sein ganzer Körper war eine einzige Prellung. Es mußte unglaublich schmerzhaft sein. Sie war erstaunt, daß er nicht mehr jammerte. Schließlich war das noch derselbe Kerl, der einen Anfall bekam, wenn man ihm ein Frühstücksomelett mit getrockneten anstelle von frischen Steinpilzen vorsetzte. Der schmollte, wenn ihm der bestellte Wein nicht zusagte.
Sie fing an, ihm das Wams wieder zuzuknöpfen. Doch er sagte: »Ich schaff das schon.«
»Ich will dir nur helfen …«
»Ich sagte, ich schaff das schon.«
Sie ließ von ihm ab und hob die Hände. »Okay, okay.«
»Ich muß die Arme sowieso bewegen«, sagte er und verzog bei jedem Knopf das Gesicht. Er machte sie alle selbst zu. Doch danach lehnte er sich wieder an die Wand und schloß, schwitzend vor Anstrengung und Schmerz, die Augen.
»Chris…«
Er öffnete die Augen wieder. »Ich bin okay. Wirklich, mach dir um mich keine Sorgen. Es ist wirklich alles in Ordnung.«
Und er meinte es ernst.
Sie kam sich fast vor, als würde sie neben einem Fremden sitzen.
Als Chris seine Schulter und seine Brust gesehen hatte — sie waren so violett wie getrocknetes Fleisch –, hatte seine eigene Reaktion ihn überrascht. Eigentlich hätte er erwartet, daß er entsetzt oder verängstigt reagierte. Statt dessen aber fühlte er sich plötzlich leicht, beinahe sorglos. Auch wenn der Schmerz ihn nach Luft schnappen ließ, der Schmerz war unwichtig. Er war einfach froh, am Leben zu sein und einen neuen Tag vor sich zu haben. Sein gewohntes Jammern, seine Nörgeleien und Unsicherheiten schienen plötzlich völlig irrelevant. Statt dessen besaß er nun, das spürte er, eine Quelle grenzenloser Energie — eine fast aggressive Vitalität, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. Er spürte, wie sie durch seinen Körper strömte, eine Art Hitze. Die Welt um ihn herum erschien ihm so lebensprall, so sinnlich wie noch nie zuvor.
Für ihn bekam der graue Morgen plötzlich eine ursprüngliche Schönheit. Die kühle, feuchte Luft trug den Duft von nassem Gras und feuchter Erde zu ihnen. Die Steine in seinem Rücken stützten ihn. Sogar der Schmerz war nützlich, weil er alle unnötigen Gefühle verdrängte. Er fühlte sich befreit, hellwach und für alles bereit. Es war eine ganz andere Welt mit ganz anderen Regeln.
Und zum ersten Mal war er in der Welt.
Mittendrin.
Als die Soldaten verschwunden waren, kehrte Marek zurück. »Habt ihr alles verstanden?« fragte er.
»Was?«
»Die Soldaten suchen nach drei Leuten aus Castelgard: zwei Männern und einer Frau.«
»Warum?«
»Arnaut will mit ihnen reden.«
»Ist es nicht nett, beliebt zu sein?« sagte Chris mit schiefem Grinsen. »Alle sind hinter uns her.«
Marek gab jedem eine Handvoll nasses Gras und Blätter. »Wildgemüse. Das ist das Frühstück. Eßt auf.«
Chris kaute die Pflanzen geräuschvoll. »Köstlich«, sagte er. Er meinte es ernst.
»Die Pflanze mit den gezackten Blättern ist Mutterkraut. Das hilft gegen die Schmerzen. Der weiße Stengel ist Weide. Wirkt abschwellend.«
»Danke«, sagte Chris. »Es ist sehr gut.«
Marek starrte ihn ungläubig an. »Ist alles in Ordnung mit ihm?« fragte er Kate.
»Ich glaube, er ist okay.«
»Gut. Eßt auf, und dann gehen wir zum Kloster. Wenn wir an den Wachen vorbeikommen.«
Kate nahm ihre Perücke ab. »Das dürfte kein Problem sein«, sagte sie. »Sie suchen nach zwei Männern und einer Frau. Also, wer hat das schärfste Messer?«
Zum Glück waren ihre Haare bereits kurz, und so brauchte Marek nur ein paar Minuten, um die längeren Strähnen abzuschneiden und ihr eine Männerfrisur zu verpassen. Während er arbeitete, sagte Chris: »Ich habe über gestern nacht nachgedacht.«
»Offensichtlich hat noch jemand einen Ohrstöpsel«, sagte Marek.
»Genau«, erwiderte Chris. »Und ich glaube, ich weiß, woher derjenige ihn hat.«
»Von Gomez«, sagte Marek.
Chris nickte. »Das nehme ich an. Du hast ihn ihr nicht abgenommen?«
»Nein. Ich habe gar nicht daran gedacht.«
»Ich bin mir sicher, daß ein anderer ihn sich weit genug ins Ohr hineindrücken kann, um etwas zu verstehen, auch wenn er ihm nicht richtig paßt.«
»Ja«,
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