Timeline: Eine Reise in die Mitte der Zeit
merkte er zunächst nicht, wie sehr sich die Stimmung im Camp verändert hatte. Nach der plötzlichen Abreise des Professors fühlten sich alle Teilnehmer des Projekts verloren und unbehaglich. Wilde Gerüchte machten die Runde, vor allein unter den Studenten: ITC stoppe die Finanzierung. ITC wolle aus dem Projekt ein Mittelalterland machen. ITC habe in der Wüste jemanden umgebracht und sei jetzt in Schwierigkeiten. Niemand arbeitete; die Leute standen einfach herum und unterhielten sich.
Marek beschloß schließlich, eine Versammlung einzuberufen, um die Gerüchte aus der Welt zu schaffen, und so rief er am frühen Nachmittag alle unter dem großen grünen Zelt neben dem Lagerhaus zusammen. Marek erklärte, zwischen dem Professor und ITC habe es Meinungsverschiedenheiten gegeben, und der Professor sei in die ITC-Zentrale geflogen, um sie aufzuklären. Alles sei nur ein Mißverständnis, das in wenigen Tagen bereinigt sei. Der Professor stehe in ständigem Kontakt mit dem Projekt, fuhr Marek fort, er habe versprochen, sie alle zwölf Stunden anzurufen, und er, Marek, erwarte, daß Johnston in Kürze zurückkommen und alles wieder seinen gewohnten Gang gehen werde.
Es half nichts. Das Gefühl tiefen Unbehagens blieb. Einige der Studenten meinten, der Nachmittag sei sowieso zu heiß zum Arbeiten und viel besser geeignet für eine Kajakfahrt auf dem Fluß. Marek, der endlich begriff, daß Appelle nichts nützten, ließ sie gehen.
Einer nach dem anderen beschlossen auch die Doktoranden, den Rest des Tages freizunehmen. Kate tauchte mit mehreren Pfund klirrenden Metalls an ihrer Taille auf und verkündete, daß sie die Steilwand hinter Gageac ersteigen wolle. Sie fragte Chris, ob er mit ihr kommen wolle (um ihr die Seile zu halten – sie wußte, daß er nie klettern würde), aber er sagte, er fahre mit Marek zum Reitstall. Stern erklärte, er fahre nach Toulouse zum Abendessen. Rick Chang wollte nach Les Eyzies, um dort einen Kollegen bei einer paläolithischen Ausgrabung zu besuchen. Nur Elsie Kastner, die Graphologin, blieb in dem Lagerhaus und brütete geduldig über ihren Dokumenten. Marek fragte sie, ob sie mit ihm kommen wolle. »Mach dich doch nicht lächerlich«, sagte sie und arbeitete weiter.
Der Reitstall außerhalb von Souillac lag fünf Kilometer entfernt, und hier trainierte Marek zweimal pro Woche. In der entfernten Ecke einer wenig benutzten Wiese hatte er ein hölzernes T-Kreuz auf einem Drehständer aufgestellt. Am einen Ende der Querstange war ein wattiertes Quadrat befestigt, am anderen hing ein Ledersack, der aussah wie ein Punchingball.
Das war eine quintaine, eine Vorrichtung, die so alt war, daß Mönche sie schon vor tausend Jahren an die Ränder ihrer illuminierten Manuskripte gezeichnet hatten. Eine solche Zeichnung hatte Marek als Vorlage für seine Version genommen.
Die quintaine zu bauen war ziemlich einfach gewesen; viel schwieriger war es, eine anständige Lanze zu bekommen. Das war die Art von Problem, mit der Marek als experimenteller Historiker immer wieder zu kämpfen hatte. Oft mußte er feststellen, daß sogar die einfachsten und gebräuchlichsten Gegenstände der Vergangenheit in der modernen Welt nicht zu reproduzieren waren. Nicht einmal, wenn Geld kein Problem war, dank des ITC-Forschungsfonds.
Im Mittelalter bestanden Turnierlanzen aus gedrechselten Rundhölzern von über drei Metern Länge. Aber Rundhölzer dieser Länge waren kaum mehr zu finden. Nach langer Suche hatte Marek eine spezielle Holzbearbeitungsfirma in Norditalien entdeckt, nahe der österreichischen Grenze. Dort war man in der Lage, aus Fichtenholz Lanzen der von ihm geforderten Länge zu drechseln, doch man war auch sehr erstaunt gewesen, als er gleich zwanzig Stück bestellte. »Lanzen brechen«, sagte er. »Ich brauche viele davon.« Als Schutz ge gen Splitter befestigte er ein Stück feines Drahtgitter am Gesichtsschutz eines Footballhelms. Wenn er beim Reiten diesen Helm trug, zog er beträchtliche Aufmerksamkeit auf sich. Er sah aus wie ein durchgeknallter Imker.
Letztendlich jedoch war er den Versuchungen der modernen Technik erlegen und ließ sich seine Lanzen aus Aluminium herstellen, von einer Firma, die sonst Baseballschläger produzierte. Die Aluminiumlanzen waren besser ausbalanciert und fühlten sich für ihn authentischer an, auch wenn sie nicht der damaligen Zeit entsprachen. Und da jetzt Splitter kein Problem mehr waren, konnte er einen ganz normalen Reithelm tragen.
Genau so einen trug
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