Tamuli 3 - Das Verborgene Land
PROLOG
Professor Itagne von der außenpolitischen Fakultät der Universität zu Matherion saß auf dem Podium und las noch einmal seine Notizen durch. Es war am späten Nachmittag eines herrlichen Frühlingstages und die Fenster des Auditoriums, in dem sich die Fakultät für Politikwissenschaft eingefunden hatte, standen offen, um den würzigen Duft von Blumen und Gras und das ein wenig störende Vogelgezwitscher einzulassen.
Professor Emeritus Gintana, der internationales Handelsrecht lehrte, stand am Rednerpult und leierte eine schier endlose Abhandlung über die Zollbestimmungen des siebenundzwanzigsten Jahrhunderts herunter. Gintana war ein schmächtiger weißhaariger, meist etwas zerstreuter Gelehrter, von dem man immer nur als »der nette alte Herr« sprach. Itagne hörte ihm gar nicht richtig zu.
An der Universität hatte sich herumgesprochen, worüber er referieren würde; deshalb waren sogar die Angehörigen der Fakultäten für angewandte Mathematik und zeitgenössische Alchimie herbeigeströmt und warteten nun mit vor Erwartung glänzenden Augen in dem riesigen Hörsaal. Die Fakultät für Zeitgeschichte saß vollständig in den vordersten Reihen. Ihrer schwarzen Roben wegen sahen sie wie ein Schwarm Krähen aus. Sie waren geschlossen gekommen und hatten sich, um ihren Standpunkt entschlossen vertreten zu können, ein wahres Feuerwerk an Argumenten zurechtgelegt.
Itagne fragte sich müßig, ob er nicht eine plötzliche Unpäßlichkeit vortäuschen sollte. Wie, im Namen Gottes – egal welchen Gottes – konnte er die nächste Stunde überstehen, ohne sich bis auf die Knochen lächerlich zu machen? Natürlich besaß er alle Informationen, aber welcher vernünftig denkende Mensch würde diese Informationen schon für bare Münze nehmen? Ein wahrheitsgetreuer Bericht über die tatsächlichen Hintergründe des Aufstands, der vor kurzem stattgefunden hatte, mußte sich wie das Hirngespinst eines Verrückten anhören. Hielt er sich an die unverfälschte Wahrheit, brauchten die mißgünstigen Kerle von der zeitgeschichtlichen Fakultät nicht einmal den Mund aufzutun. Itagne würde seinen guten Ruf ganz allein, ohne ihr Zutun ruinieren.
Er warf einen letzten, flüchtigen Blick auf seine so umsichtig zusammengestellten Notizen; dann faltete er sie zusammen und schob sie düster in den weiten Ärmel seiner Robe. Was sich heute abend hier ereignen würde, kam einer wüsten Spelunkenkeilerei gewiß näher als einer sachlichen wissenschaftlichen Diskussion. Offensichtlich waren die Herren von der Zeitgeschichte deshalb so vollzählig hier angerückt, um ihn niederzubrüllen. Itagne straffte die Schultern. Also gut! Wenn die Kerle Streit suchten, sollten sie ihn bekommen!
Ein Lüftchen war aufgekommen. Die Vorhänge der hohen Fenster raschelten und blähten sich, und die goldenen Flammenzungen der Öllampen flackerten und tanzten. Es war ein wunderschöner Frühlingsabend, draußen, drinnen, überall – nur nicht in diesem Auditorium.
Es wurde höflich geklatscht, und der alte Professor Gintana verbeugte sich ein wenig aufgeregt und geschmeichelt darüber, daß man seine Anwesenheit überhaupt zur Kenntnis nahm. Seine Notizen in beiden Händen, kehrte er an seinen Platz zurück. Sodann erhob sich der Dekan des Instituts für Politikwissenschaft, um den Hauptvortrag des Abends anzukünden. »Werte Kollegen«, begann er, »ehe Professor Itagne uns die Ehre erweist und mit seinen Ausführungen beginnt, möchte ich die Gelegenheit nutzen, euch einige Besucher von Rang und Namen vorzustellen. Ich bin überzeugt, ihr alle werdet die im folgenden genannten Herren ebenso erfreut wie ich willkommen heißen: Patriarch Emban, Vertreter der Kirche von Chyrellos; Ritter Bevier vom Orden der Cyriniker in Arzium, und Ritter Ulath vom Orden der Genidianer aus Thalesien.«
Wieder ertönte ein höflicher Applaus, als ein bleicher, schlaksiger Student die elenischen Besucher auf die Empore führte und Itagne ihnen entgegeneilte, um sie zu begrüßen. »Dem Himmel sei Dank, daß ihr hier seid!« murmelte er sichtlich erleichtert. »Die gesamte Fakultät für Zeitgeschichte hat sich eingefunden – mit Ausnahme jener, die wahrscheinlich draußen das Pech zum Sieden anschüren und Säcke mit Federn herbeischaffen.«
»Habt Ihr ernsthaft gedacht, Euer Bruder würde Euch den Wölfen zum Fraß vorwerfen, Itagne?« Emban lächelte und ließ sich auf einer Bank unter dem Fenster nieder. »Er war der Meinung, Ihr würdet Euch hier
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