Timoken und der Trank der Unsterblichkeit
Corner
Dezember 2005
Der Wald-Dschinn
Einst gab es ein verborgenes Königreich. Es lag abgeschieden vom Rest der Welt in einem Wald so weit und tief wie das Meer. Die Menschen dort hatten niemals einen Krieg erlebt, gleichwohl hatten sie davon gehört. Von ihren Vorfahren, die das Königreich gegründet hatten, waren ihnen schreckliche Geschichten über Zwietracht und Grausamkeit überliefert worden. Deshalb hielten sie ihre Speere auf Hochglanz poliert, malten zur Abschreckung wilde Tiere auf robuste Holzschilde und postierten sogar Wachen auf den hohen Türmen, die sich an jeder der vier Ecken des Palastes erhoben.
Der König dieses Landes verkörperte alles, was einen guten König ausmachte. Er war ein weiser, ehrlicher und würdevoller Mann. Einen Kopf größer als die meisten seiner Untertanen, hatte er eine Vorliebe für farbenfrohe Gewänder und goldenen Schmuck, den er in langen Ketten um seinen Hals geschlungen und in breiten Armreifen an seinen Handgelenken trug. Allein seine Krone war nur ein schmaler Goldreif, der fast in seinem dicken schwarzen Haar verschwand. Sie war über tausend Jahre alt und hatte einst den Kopf des ersten Herrschers des verborgenen Königreichs geziert.
Die Königin dagegen war eine rätselhafte Frau. Sie war immer sehr still und wirkte verträumt. Man glaubte, dass der König sie wegen ihrer außergewöhnlichen Schönheit zur Gemahlin genommen hatte, doch das entsprach nur der halben Wahrheit. Er liebte sie auch wegen ihrer reinen Seele, ihrer Güte und dem magischen Klang ihrer Stimme.
Der König und die Königin hatten ein Kin d – Prinzessin Zobayda, die zwei Jahre alt war. Ein zweites Baby war unterwegs, doch aus unerfindlichen Gründen sah die Königin der bevorstehenden Geburt mit Sorge entgegen.
Es war die heißeste Zeit des Jahres, dennoch fröstelte die Königin in einem fort. Tagsüber wandelte sie ruhelos durch den Palast und murmelte vor sich hin. Nachts schrie sie im Schlaf und rief: „Rette ihn! Rette meinen Sohn!“
Der König flehte sie an, ihm von ihren Albträumen zu erzählen. Er konnte nicht verstehen, wovor sie sich so sehr fürchtete. Sie war kräftig und gesund. Ihr Königreich war gut geschützt und er versuchte ihr jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Warum sorgte sie sich so sehr um ein Kind, das noch nicht einmal geboren war?
Die Königin konnte es ihm nicht erklären. Sie vergaß ihre Träume, sowie sie erwachte, und konnte kaum glauben, dass die Muster auf dem gefliesten Boden nur durch ihre endlosen Schritte verblasst waren. Sie hatte schon hundert Paar Schuhe abgenutzt und wanderte mittlerweile barfuß umher. Ihre Füße waren wund und mit Blasen übersät, doch sie lief trotzdem immer weiter. Manchmal wurde dem König vom Zusehen seiner rastlosen Frau regelrecht schwindelig.
Eines Nachts kam ein heftiges Gewitter auf. Wind und Regen peitschten über das verborgene Königreich, entwurzelten Bäume, ließen die Flüsse über die Ufer treten und überschwemmten die Straßen. Unaufhörliches Donnergrollen erfüllte die Luft, Blitze zuckten über das Land und erhellten die Nacht.
Die Fenster des Palastes waren fest verriegelt und der König und die Königin hockten eng beieinander auf einem niedrigen Kanapee mit vielen goldbestickten Kissen. Ausnahmsweise saß die Königin völlig reglos da. Leicht vorgeneigt lauschte sie gespannt dem Wind, als würde sie Stimmen darin hören.
„Was sagen sie?“, fragte der König halb im Scherz und nahm ihre Hand. „Sagen si e …“
„Schhhh!“, zischte seine Gemahlin.
In diesem Moment flogen die Fenster auf und ein merkwürdiges kleines Geschöpf flatterte ins Zimmer und blieb mit dem Kopf nach unten und ausgebreiteten, zerfetzten Flügeln auf dem Marmorfußboden liegen.
Seine Flügel waren nicht mit Federn besetzt, sondern so zart und empfindlich wie die eines Nachtfalters und sprossen aus den knochigen Schultern des Wesen s – dunkle, erdfarbene Schwingen mit hell durchschimmernden Adern. Der Rest des zarten Körpers war von einer Art graublauer Seide verhüllt, die auf den ersten Blick wie feiner Nebel wirkte, aber allmählich vom Körper des Eindringlings rutschte, sodass seine kümmerliche Gestalt zum Vorschein kam.
Mit offenem Mund starrte das Königspaar das Geschöpf an, das nun langsam seine Flügel zusammenfaltete und sich auf die Knie hockte.
Dann hob das kleine Wesen den Kopf und blickte die Königin an. Es hatte eine fleckige graue Haut und riesige safrangelbe Augen. Die Spitze
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