Timoken und der Trank der Unsterblichkeit
warf dieser die Krone einem Kameraden zu. Ein anderer Krieger sprang nun hinterher, doch auch er konnte nur noch mit ansehen, wie die Krone ein zweites Mal in die Luft geschleudert wurde. Immer weiter flog der goldene Reif über die brüllende Menge, wurde aufgefangen und dem Nächsten zugeworfen, bis er bei einem der königlichen Diener landete, der ihn der Königin brachte.
Mit Tränen in den Augen wischte sie das Blut und den Staub von der Krone und setzte sie auf die dunklen Haare ihres Sohnes. Doch der Kopf des Königs war sehr breit gewesen, sodass die Krone für Timoken zu groß war und ihm ins Gesicht zu rutschen drohte. Zobayda erkannte das Dilemma, trat vor und schob die Krone über Timokens Ohren. Dann schloss sie die Augen und murmelte mit rauchiger Stimme geheimnisvolle Worte vor sich hin. Unter ihren schlanken Fingern begann sich die Krone auf wunderbare Weise an Timokens Kopf anzupassen und er fühlte sich schon fast wie ein König.
Verblüfft betrachtete er die geschlossenen Augen seiner Schwester und flüsterte: „Du bist ja eine Fee.“
„Ja“, erwiderte sie. „Ich glaube, das bin ich.“
Die Königin sammelte in der Zwischenzeit rasch ein paar Kleidungsstücke ihrer Kinder zusammen und stopfte sie in einen Beutel aus Ziegenleder. Dann nahm sie das Mondspinnennetz und das Elixier aus der Truhe und gab beides ihrem Sohn.
„Pass gut darauf auf“, schärfte sie ihm ein. „Die Flasche enthält ein Elixier. Ihr beide müsst in jeder Neumondnacht einen Tropfen einnehmen und ihr werdet so bleiben, wie ihr jetzt seid.“
Bedeutete das, dass er nicht erwachsen werden würde? Timoken wollte aber kein Kind bleiben. Er wollte ein Mann werden, und zwar so schnell wie möglich. „Ich brauche dieses Elixier nicht“, sagte er mit einem ablehnenden Blick auf die Flasche. „Ich möchte gern älter werden.“
„Aber jetzt noch nicht“, riet ihm seine Mutter. „Du könntest ein alter Mann sein, bevor du ein neues Königreich gefunden hast.“
„Werde ich denn ein neues Königreich finden?“, fragte Timoken.
„Ich bin mir sicher, dass du eines Tages ein neues Zuhause haben wirst“, antwortete die Königin.
Zobayda berührte das Gespinst. „Und was ist das?“, fragte sie. „Es sieht aus wie ein Spinnennetz, aber es ist ungleich schöner. Hat es magische Kräfte?“
„Ja“, erwiderte die Königin. „Es bleibt nicht genug Zeit, um euch alles zu erklären, meine Kinder, aber es wurde von der letzten Mondspinne gesponnen. Ihr müsst es zu eurem Schutz immer bei euch tragen.“ Sie stopfte das Netz zusammen mit dem Elixier in den Beutel. „Und jetzt beeilt euch, schnell!“
Timoken warf sich den Beutel über die Schulter. Er sah verwirrt aus. „Und was jetzt?“, fragte er.
„Jetzt?“, sagte die Königin. „Jetzt müsst ihr gehen.“ Sie umarmte und küsste ihre Kinder zum Abschied und forderte sie auf, so schnell wie möglich den Palast zu verlassen. Der Lord und seine Krieger waren schon dabei, das Gebäude zu stürmen.
„Aber wie sollen wir fliehen?“, fragte Zobayda weinend. „Wir sind umzingelt.“
„Kommt mit!“ Die Königin führte die Geschwister zurück aufs Dach. Während über ihren Köpfen die Sonne brannte, stand die Armee des Lords tief unter ihnen im Schatten.
„Was nun?“, fragte Zobayda. „Wenn wir springen, werden wir sterben.“
„Ihr werdet sterben, wenn ihr hierbleibt. Deshalb müsst ihr fliegen!“ Die Stimme der Königin klang beinahe triumphierend.
Timoken spürte, dass seine Mutter lange auf diesen Moment gewartet hatte. „Wir können nicht fliegen“, sagte er bestürzt und verängstigt.
„Ich glaube, dass du es kannst“, erwiderte die Königin lächelnd. „Zobayda, leg deine Arme um deinen Bruder und halte dich gut fest. Lass ihn nicht los, bis ihr in Sicherheit seid.“
„Aber wann werden wir in Sicherheit sein?“, fragte Timoken flehend. „Mutter, wovon redest du?“
„Tut, was ich euch sage!“, befahl die Königin. „Sieh zur Sonne auf, Timoken. Und dann fliege ihr entgegen!“
„Ich kann nicht“, entgegnete Timoken. „Das Sonnenlicht blendet mich zu sehr.“
„Schließ die Augen. Flieg einfach hoch. Spüre deinen Weg durch den Himmel. Du kannst es, Timoken. Jetzt!“ Die Stimme der Königin klang nun brüchig vor Angst.
Timoken hörte, wie die Krieger die Stufen zum Dach hinaufstürmten. Ihre Waffen schrammten an den Wänden entlang und ihre rauen Stimmen hallten durch das Treppenhaus. Timokens Herz schlug schneller. Er
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