Tinnef
hatte es tatsächlich eine besondere Beziehung zwischen dem adeligen Burschen und dem unglücklichen Ungarn gegeben, und es sprach einiges dafür, dass diese nicht nur auf dem Umstand beruhte, dass sich Baumgarten gerne von Mészáros aushalten ließ. Der Mészáros hatte sich, dessen war sich Bronstein nun schon ziemlich sicher, in den Baumgarten verschaut. Ob dies nun aber der Tatsache geschuldet war, dass Baumgarten möglicherweise die Eintrittskarte in bessere Kreise zu bedeuten vermochte, oder ob tatsächlich auch eine sexuelle Konnotation mitschwang, darüber konnte es noch kein verbindliches Urteil geben. Wie man es auch drehte und wendete, man musste einfach mehr über die Persönlichkeit des Mészáros in Erfahrung bringen.
Zu diesem Zweck hatte sich Bronstein eine Dienstreise an Mészáros’ Heimatort bewilligen lassen, die ihn am 19. nach Ungarn geführt hatte, wo er drei Tage lang verzweifelt versucht hatte, irgendwelche Fakten von Relevanz in Erfahrung zu bringen. Doch das Bild blieb dasselbe. Ein ruhiger, ja ein stiller Kerl, absolut unauffällig schon in der Schule. Ein Einzelgänger, strebsam, das ja, doch irgendwie auch sehr eigenbrötlerisch, um nicht zu sagen seltsam. Hielt sich immer von allem fern, was nach Vergnügen oder ländlicher Unterhaltung hätte riechen können, nahm an keinem Kirtag, keiner Hochzeit oder sonstigen Feier teil, und in Damenbegleitung habe man ihn ohnehin nie gesehen. Die Summe der im Ungarischen zusammengetragenen Erhebungen bestätigte den bereits vorhandenen Befund, brachte aber keinerlei neue Erkenntnisse. Bronstein befand sich in einer Sackgasse. Vor allem verspürte er mit jedem neuen Tag, der anbrach, mehr Druck auf seinen Schultern lasten. Nechyba erwartete einen erhellenden Bericht, Pokorny erging sich in Untergangsvisionen, und die neuen Kollegen beschränkten sich darauf, hinter Bronsteins Rücken zu tuscheln und in seiner Gegenwart zu sticheln. Als sein Blick auf die Titelseite des „Prager Tagblatts“ fiel, auf der in Balkenlettern von der Ermordung des mexikanischen Präsidenten berichtet wurde, da rührte ihn das Schicksal dieses Politikers merkwürdig an. Wenn er nicht höllisch aufpasste, dann war es sein Kopf, der als nächster fiel. Sein nur höherer Protektion geschuldetes Avancement sahen viele im Agenteninstitut als Provokation, und so mochte es nicht verwundern, dass die Freude an seinem allfälligen Scheitern groß ausfallen würde. Wenn er auch noch nicht wusste, wie, aber er musste unbedingt Erfolge einfahren. Und das besser heute als morgen.
„Pokorny“, begann er, als dieser mit den obligaten Kaffeetassen in seinem Zimmer erschien, „wir müssen irgendetwas übersehen haben. Seit zwei Wochen plagen wir uns jetzt schon mit der Sache herum, und rausgekommen ist bis jetzt gar nichts.“
„Seit einer Woche.“
„Wie bitte?“
„Seit einer Woche plagen wir uns herum. … Das ist wichtig, weil wenn es schon zwei Wochen wären, dann wäre uns der Fall schon entzogen worden. Und wir hätten ein Verfahren wegen Unfähigkeit am Hals.“ Pokornys Stimme war bemerkenswert ruhig und gelassen, und er schlürfte dabei seinen Kaffee als hätte er eben einen Kommentar zur zukünftigen Wetterentwicklung abgesondert.
„Na du verstehst es, einem Mut zu machen. Sag mir lieber, wo wir jetzt noch ansetzen können.“
„Wir müssten halt rekonstruieren können, wie der letzte Tag im Leben dieses Mészáros abgelaufen ist. Wo war der am Samstag am Abend?“
„Am Achten?“ Bronstein ging noch einmal die einzelnen Aktenblätter durch. „Da ist er ab acht Uhr bis zur Sperrstunde allein bei diesem Wirten gesessen und hat getrunken. Das hat der Wirt selbst ausgesagt.“
Bronstein kramte weiter in den Unterlagen. „Bis zwölf Uhr hatte er Dienst. Nach einer Information aus der Stiftskaserne war er dann mit der Inspektion der Waffenkammer beschäftigt und hat noch mit dem Quartiermeister ein Mittagsmahl eingenommen.“
„Das heißt, vor zwei wird er nicht von dort weggekommen sein.“
„Richtig, das sehe ich auch so. Allerdings braucht er nicht lang, bis er zu Hause ist. Dreißig Minuten vielleicht. Bleibt eine Zeitspanne von über fünf Stunden, über die wir nichts wissen.“ Bronstein blies gepresst Luft aus.
„Na ja, und danach, also nach der Sperrstunde, da wissen wir ja auch nichts. Ich meine, der kann sich um Mitternacht des Neunten genauso aufgehängt haben wie um Mitternacht des Zehnten, also wenn er sich aufgehängt hat,
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