Tintorettos Engel
Rialto rannte, wo ich lange nicht gewesen war. Hinter mir die Schritte einer Person, die ich nicht sehen, aber auch nicht abschütteln konnte. Ich wusste nicht, welche Schuld ich auf mich geladen hatte, doch mir war klar, dass ich nicht stehen bleiben durfte. Ich rannte, das Herz schlug mir bis zum Hals. Mein Körper war jugendlich, meine Beine flink. Ich musste mich verlaufen haben, denn auf einmal befand ich mich in einer Sackgasse. Nur noch ein unheimliches Funkeln vor mir. Der Schatten meines Verfolgers - oder meiner Verfolgerin - bildete auf der Fassade des Palazzo einen dunklen Fleck. Ich stürzte mich ins Wasser, und erst da merkte ich, dass es kein Wasser, sondern eine dicke und klebrige rote Flüssigkeit war. Blut. Die Strömung trieb mich weit weg vom Ufer, der Fluss mündete in einen Kanal, Wellen von Blut rauschten unter den Brücken und zwischen den Häusern hindurch, wovon eines mir gehörte. Ich schlug um mich, doch ich schaffte es nicht, gegen den Sog anzuschwimmen. Ich war leicht wie eine Seifenblase, und als wäre ich es gewesen, der dieses Blut verlor, verließen mich meine Kräfte. In diesem Moment wachte ich auf. Ich hatte zum letzten Mal geschlafen, doch das konnte ich nicht wissen.
Auf der Staffelei in meinem Atelier erwartete mich die Grablegung Christi . Für mich gab es nun nichts mehr zu tun: Das Gemälde war fertig. Wenn du feststellst, dass dein Werk dir nicht mehr gehört, erlebst du einen Moment der Enttäuschung. Wenn es absolut nicht das ist, was es hätte werden sollen - nicht einmal ein müder Abklatsch deiner Absichten -, wenn es nichts anderes mehr werden kann. Als junger Mensch, der am Beginn seines
Arbeitslebens steht, hegst du noch - frei und unbedarft - so viele Hoffnungen. Du spürst einen inneren Drang, Leidenschaft spornt dich an, aus Launen geborene Ideen ermutigen dich. Erschaffen ist für dich so natürlich wie atmen. Die Fülle an Stoffen verführt dich, deine Willenskraft gibt dir Sicherheit. Dann aber kommt die Notwendigkeit zu leben. Erschaffen wird zur Pflicht und gleichzeitig so selbstverständlich wie sich entleeren müssen. Allmählich behindert dich dieser unerkannte Ballast, vergällt dir die Freude, verwandelt die Liebe in Gewohnheit. Und wenn du standhaft bleibst, deine Ideale nicht verrätst, wenn du überlebst, dann tritt der Wahn ein, kommen Schall und Rauch und die Anmaßung, wissend zu sein. Früher oder später stellst du fest, dass die Reise zu Ende ist und du wieder an dem Ufer stehst, von dem du abgelegt hast. Wenn du ein Mensch bist und keine aufgeblasene Sackpfeife, bleibt dir einzig die Erkenntnis, gescheitert zu sein.
Also habe ich nach meinen Söhnen geschickt und ihnen aufgetragen, eine Gondel zu besorgen, um nach San Giorgio Maggiore zu fahren.«Jetzt?», fragte Marco und rieb sich die blutunterlaufenen Augen. Er war noch nicht zu Bett gegangen.«So bald wie möglich», antwortete ich.«Bist du sicher, dass ich mitkommen muss?», fragte er verwundert. Ich bitte ihn nie, mich zu begleiten. Ich vertraue ihm nicht, lasse ihn nicht einmal mein Atelier betreten, weil ich fürchte, dass er meine Bilder klaut, um die Betrüger zu bezahlen, denen er auf den Leim gegangen ist.«Ich will euch alle beide», sagte ich.
«Guten Morgen, Maestro», flüsterten Dominicos Gesellen und beäugten mich mit einer Hochachtung, die ihr Entsetzen nicht verbarg. Sie waren bereits früh in der dämmrigen Werkstatt damit beschäftigt, Paletten abzuschaben und Farbe zu zerreiben. Ich selbst habe nie die Geduld gehabt, mich mit Schülern zu umgeben, ihre Anwesenheit war mir stets eine Last, ich glaube nicht an die Schule - in meinem gesamten Leben gibt es nur eine Person, die zu unterrichten ich nicht müde geworden bin.«Lass deine Gehilfen
etwas Nützliches tun, Dominico», rief ich meinem Sohn zu.«Die Grablegung muss verpackt werden.»
Nachdem ich an meinem Bart herumgeschnitten hatte, trat mir im Spiegel ein furchterregender Übeltäter entgegen, der aussah, als wollte er mich umbringen. Meine Augen sind zwei hohle Schatten, mein Bart ein weißes Büschel. Drei Falten zerteilen in tiefen Furchen meine Stirn. Es heißt, dass das Gesicht, das die Zeit uns schafft, Ähnlichkeit mit unserem Leben habe, und wir in den Lippenfalten, in jedem einzelnen Leberfleck das ablesen könnten, was uns widerfahren ist. Aber ich wollte mich nicht lesen. Ich weiß, dass die anderen mich fürchten: Auch ich fürchte mich bisweilen vor mir.
Meine Frau wartete mit dem Frühstück auf
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