Tintorettos Engel
unerlaubterweise einen Platz auf der Tribüne erstanden, die den Anwohnern des Viertels vorbehalten war - ein langer Tisch auf einer Reihe von Tonnen -, und genoss die Vorstellung. Ein Stier nach dem anderen betrat die Arena und schwankte, gezogen von einem dicken, um die Hörner gewickelten Seil, mal nach rechts und mal nach links. Die Stiertreiber, auch Tiradori genannt, nötigten die Tiere, sich im Kreis zu drehen, und um sie aufzuhetzen, zündeten sie die Reisigbündel an, die zwischen ihren Hörnern steckten. Je wilder das Vieh wurde, umso größer war der Mut, den die Tiradori unter Beweis stellen mussten. Fünf oder sechs Stiere waren bereits an der Tribüne vorbeigezogen und hatten immer wieder gereizt mit den Hufen ausgeschlagen. An ihren Ohren hatten sich Treiberhunde festgebissen, die sie hinter sich herzogen. Trotz des Feuers ließen die Hunde ihre Beute nicht los. Die Stiertreiber mussten so lange an ihren Hinterbeinen ziehen, bis schließlich das Ohr abriss. Allenthalben lag ein beißender Geruch nach verbranntem Fell in der Luft, der sich mit dem Gestank nach Blut und Urin vermischte, der vom Sandboden in der Arena aufstieg.
Der siebte Stier aber ließ sich nicht ungestraft verstümmeln. Als die Hunde nach seinen Ohren schnappten, trat er, vor Schmerz außer sich, so lange um sich, bis er dem Stiertreiber das Seil aus den Händen gerissen und ihn auf den Sandboden geschleudert hatte. Er wehrte sich mit einer solchen Gewalt, dass der überraschte Hund mit einem bluttriefenden Ohrfetzen im Maul in hohem Bogen durch die Luft flog. Der Stier trat auf ihn ein und ging dreimal hintereinander mit seinen Hörnern auf ihn los, was den Zuschauern einen gehörigen Respekt einflößte. Plötzlich
rannte er mit seinem brennenden Haupt in unsere Richtung. Mit einem Satz waren wir alle aufgesprungen, die Tribüne kippte um. Im Tumult der drängenden und schubsenden Menschenmenge wurde ich auf einmal gegen sie gedrückt. Der riesige Stier - vom Zorn der Stiertreiber sowie vom Feuer, das auf sein Rückenfell übergesprungen war, angestachelt - stand schnaufend in einer Wolke aus Sägespänen und schlug mit seinen Hufen, an die sich die bissigen Hunde gehängt hatten, in den Sand. Alle schrien, vor Begeisterung und Angst. Trotz der Gefahr hätte niemand auf das Spektakel verzichtet.
Es war der Feiertag von San Felice. Mit unglaublicher Begeisterung besuchte ich Prozessionen, Paraden und große Feste - wo ich zwischen Tausenden von Menschen untertauchen und die gefährliche Nähe der Massen in mich aufsaugen konnte. Regelmäßig nahm ich auch an den offiziellen Feierlichkeiten der Republik, die ich mitunter selbst organisiert hatte, und den etwas prunkvolleren Festen teil, die unter der Schirmherrschaft der Laienbruderschaften stattfanden, und darüber hinaus entging mir kein einziges Volksfest von Cannaregio. Von klein auf habe ich Stiere gejagt, Bären verfolgt, bei den Brückenkämpfen Peddigrohre durch die Luft geworfen, die ich zuvor in kochendem Öl abgehärtet und zu Spießen gefeilt hatte, hab mit Schießpulver Ratten in den Himmel geschossen, Enten am Kragen gepackt und durch die Gegend gewirbelt. Zu Beginn des stürmischen Festes von San Felice duftete es immer nach frittierten Seezungen, die auf Barken entlang des Kanals verkauft wurden, durch den sich die Gondeln der Adeligen hindurchschlängelten. Die Armen der Pfarrgemeinde hatten ihnen ihre Fenster, Balkone und Häuserdächer vermietet, damit sie den Umzug, ohne sich unter das einfache Volk mischen zu müssen, verfolgen konnten. Dort fühlten sie sich inmitten von Böllern, Kanonen und den Jugendlichen der verfeindeten Viertel, die es darauf abgesehen hatten, eine Schlägerei anzuzetteln und ihren Mut zur Schau zu stellen, gut aufgehoben. Und je näher die
Stunde des Kampfes rückte, umso stärker stieg die Spannung und umso herber wurde der Geruch von Mensch und Tier nach Blut und erhitzten Gemütern.
Sie war als Mann verkleidet, trug Hosen, eine Wickeljacke und einen Samthut, auf dem vorn eine schiefe, gelbe Feder steckte. Den Hut mit einer falschen Perlenkrone auf der Krempe hatte sie etwas zur Seite gezogen. Sie sagte mir, dass sie wegwolle, das Schauspiel nicht mehr mitansehen könne, dass es schlimmer sei, Tiere zu misshandeln, als Menschen zu misshandeln, da Tiere in jedem Fall unschuldig seien. Außerdem herrsche ein zu großes Gedränge, jedes Jahr gebe es Tote. Ihre Stimme klang tief und kehlig. Sie sprach venezianisch mit einem starken
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