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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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sein Gesichtsausdruck verrät nichts davon. Wenn ich ihm erzählen würde, dass in diesem Schrank meine Tochter sei, würde er mich weder für verrückt noch meiner Sinne beraubt halten - er würde mir glauben, solange ich daran glaubte.
    «Warum hast du mir nicht gehorcht?», hielt ich ihm vor.«Ich konnte nicht, Maestro», antwortete er beschämt.«Ich habe es versucht, habe die Kleider zu den Trockenplätzen von San Girolamo gebracht. Die Färber müssen doch ständig das Feuer unter den Kesseln bestücken. Aber mir war, als beginge ich eine Schandtat. Ich dachte, eines Tages würdet Ihr Eure Meinung ändern, Maestro, und dann würdet Ihr mich mit Euren Blicken töten, weil
ich in einem Augenblick gehorcht habe, in dem Ihr nicht Herr Eurer selbst wart.»Während mein Diener mit mir sprach, kam mir der letzte Tag wieder in Erinnerung, den ich versuchte, weit wegzuschieben. Denn nicht an das Ende, sondern an den Anfang soll man sich entsinnen.
    Da geschah auf einmal etwas Merkwürdiges zwischen den schiefen Schränken und verstaubten Lumpen da oben auf dem Speicher. Mein Lebtag bin ich schwindelfrei gewesen - auf unzähligen Gerüsten bin ich herumgeklettert, hab zum Malen wie eine Spinne an Seilen gebaumelt -, doch an jenem Tag hatte ich das Gefühl, in den Abgrund hineingesogen zu werden, aus unermesslicher Höhe in die Tiefe zu fallen. Ich musste mich an Nastasio festklammern.
    Wie eine Faust zog sich mein vor Krämpfen zuckender Magen zusammen. Erst spuckte ich das Frühstück wieder aus, dann das Essen vom Vorabend, schließlich mein Allerinnerstes. Über den Kübel gebeugt, den Nastasio mir hinhielt, entleerte ich mich unaufhaltsam. Mein ganzer Körper war innerlich in Aufruhr. Irgendetwas wand sich in meinem Leib, als wollte es heraus, und noch jetzt windet es sich hin und her. Seit diesem Morgen quält mich ein leichtes Fieber und werden meine Gliedmaßen von einem unkontrollierbaren Schütteln beherrscht. Ich war nicht in der Lage, nach San Giorgio Maggiore zu fahren und die Grablegung Christi abzugeben.«Wir gehen morgen oder übermorgen», sagte ich zu meinen Söhnen, die auf den Fondamenta bereits auf mich warteten.«Die Mönche warten seit Jahren, auf einen Tag mehr oder weniger kommt es nicht an.»
    Ich ließ mich aufs Bett fallen. Bleib ganz ruhig, es ist nur ein kleines Fieberwehwehchen, völlig normal für die Jahreszeit, versuchte ich mich zu beruhigen. Das geht vorbei. Nicht einen einzigen Bissen konnte ich mehr herunterwürgen, geschweige denn irgendetwas bei mir behalten. Der Arzt sprach von einer Erschlaffung des Magens. Die Weisheit der Ärzte überzeugt mich
jedoch nicht im Geringsten, sie haben meinen Körper noch nie verstanden. Sie mögen ein Knurren oder Rumoren wahrnehmen, nicht aber meine Geheimnisse - die gehören mir. Denn ich weiß, was da hinauswill, Herr. Es hat alles mit ihrer Rückkehr begonnen.
     
    Als Marietta zur Welt kam, war ich sechsunddreißig Jahre alt. In diesem Alter war Michelangelo bereits Europas herausragendster Künstler. Ich dagegen hatte gerade erst mich selbst gefunden. Ich lebte, um zu malen. Mehr interessierte mich nicht. Obgleich die anderen es mir nicht zugestanden, und nie habe ich mehr unter der Feindseligkeit in meinem Umfeld gelitten als in jenen Jahren, machte ich Tag für Tag Fortschritte. Ich löste mich von allem, was ich gelernt hatte, vom Wunsch zu erstaunen, von der Angst zu missfallen, von der Notwendigkeit, das zu beweisen, wozu ich fähig war. Wie die Skulptur aus einem Marmorblock kam ich Stück für Stück zum Vorschein. Ich hatte mich auf den Weg gemacht, den Augenblick der Gnade zu erreichen, den wir im Rückblick als den Höhepunkt unseres Lebens bezeichnen. Als wäre das Leben tatsächlich ein Rad, das uns für einen Augenblick und nur für diesen einen Augenblick nach oben bringt, ganz weit hoch, wo nichts an uns heranreicht. Und dann stürzt es uns in die Finsternis, in die Stille.
    Mit sechsunddreißig war mir der Gedanke, durch die Malerei meine größten Träume verwirklichen zu können, allmählich vertraut geworden, und diese Erkenntnis berauschte mich. Vergib mir, Herr. Vergib mir, falls ich für einen Moment geglaubt habe, die Fäden meiner Zukunft in der Hand zu halten - allmächtig zu sein, glücklich. Meine einzige Sorge war herauszufinden, wie und wo ich das hervorbringen konnte, was in mir gärte. Daher lernte ich, schnell wie der Blitz zu sein, jede Gelegenheit beim Schopf zu packen. Erst wenn diese kreative Lust gegeben

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