Titan 04
insgeheim, aber es war zu spät für einen Rückzieher. »Mrs. Hanshaw«, sagte sie schüchtern, »ich bin Miß Robbins.« Ihre Vorstellung endete in hoher Stimmlage.
Mrs. Hanshaw schaute zuerst verständnislos drein. »Richards Lehrerin?« meinte sie dann. Ihre Frage verklang ebenfalls mit einem hohen Ton.
»Richtig.« Miß Robbins trat die Flucht nach vorn an und kam unverzüglich zur Sache. »Ich rufe Sie an, Mrs. Hanshaw, um Ihnen mitzuteilen, daß Dick heute früh viel zu spät zur Schule gekommen ist.«
»Er ist was? Aber das ist unmöglich. Ich habe ihn gehen sehen.«
Miß Robbins war erstaunt. »Sie meinen, daß Sie gesehen haben, wie er die T‐Tür benutzt hat?«
»Nein, das nicht«, sagte Mrs. Hanshaw eilig. »Unsere Tür war zeitweilig defekt. Ich habe ihn zu Nachbarn geschickt, und er hat deren Tür benutzt.«
»Sind Sie sich dessen sicher?«
»Natürlich bin ich sicher. Weshalb sollte ich Sie anlügen?«
»Nein, nein, Mrs. Hanshaw, das wollte ich auch keineswegs unterstellen. Ich meine, wissen Sie mit Bestimmtheit, daß er den Weg zu den Nachbarn gefunden hat? Möglicherweise hat er sich verirrt.«
»Lächerlich. Wir besitzen entsprechende Karten, und ich bin davon überzeugt, daß Richard die Lage eines jeden Hauses im Distrikt A 3 kennt.« Dann fügte sie mit dem gemessenen Stolz jemandes hinzu, der weiß, was er sich schuldig ist: »Dabei besteht natürlich gar keine Notwendigkeit solcher Kenntnisse. Er braucht lediglich alle erforderlichen Koords zu wissen.«
Miß Robbins, die einer Familie entstammte, welche schon immer beim Gebrauch ihrer T‐Türen äußerste Wirtschaftlichkeit hatte walten lassen müssen (aufgrund der hohen Energie‐kosten), die deshalb bis ins fortgeschrittene Alter Besorgungsg舅gte zu Fuß unternehmen mußte, mißfiel dieser Stolz. »Nun, Mrs. Hanshaw«, sagte sie betont deutlich, »ich befürchte, Dick hat die nachbarliche T‐Tür nicht benutzt. Er traf über eine Stunde zu spät in der Schule ein, und der Zustand seiner Flexies bewies ganz offensichtlich, daß er übers Land gewandert ist. Sie waren lehmig. «
»Lehmig?« Mrs. Hanshaw wiederholte die Betonung des Worts. »Was hat er dazu gesagt? Wie lautet seine Entschuldigung?«
Miß Robbins vermochte eine gewisse Genugtuung über die Fassungslosigkeit ihrer Gesprächspartnerin nicht zu unterdrücken. »Er wollte nicht darüber sprechen«, sagte sie. »Um ehrlich zu sein, Mrs. Hanshaw, er wirkt krank. Deshalb rufe ich Sie an. Vielleicht sollten Sie ihn von einem Arzt untersuchen lassen.«
»Hat er Fieber?« Mrs. Hanshaws Stimme klang nun schrill.
»Oh, nein, ich meine keine physische Erkrankung. Ich meine sein Verhalten und diesen Blick in seinen Augen.« Sie zögerte, dann bot sie alles Feingefühl auf. »Ich dachte, vielleicht könne eine Routineuntersuchung mit einer Psychosonde…«
Beenden konnte sie den Satz nicht. Mit frostiger Stimme und einem Laut, der soweit einem Schnaufen ähnelte, wie ihre Herkunft es zuließ, unterbrach Mrs. Hanshaw sie. »Wollen Sie damit andeuten, Richard sei neurotisch?«
»O nein, Mrs. Hanshaw, aber…«
»Allerdings klang es ganz so. Was für ein Einfall! Er war immer vollständig gesund. Ich werde mich dieser Sache annehmen, sobald er heimkommt. Ich hege die Überzeugung, daß es dafür eine völlig normale Erklärung gibt, und mi r wird er sie anvertrauen.«
Die Verbindung erlosch urplötzlich, und Miß Robbins fühlte sich gekränkt und außergewöhnlich genarrt. Schließlich hatte sie nur zu helfen versucht, das tun wollen, was sie als ihre Pflicht gegenüber ihren Schülern betrachtete. Nach einem Blick auf die Metallfläche der Wanduhr eilte sie zurück zum Klassenzimmer. Der Englischaufsatz war an der Reihe.
Aber ihre Überlegungen beschäftigten sich nicht ausschließlich mit dem Englischaufsatz. Wie üblich rief sie Schüler auf und ließ sie Abschnitte aus ihren Texten vorlesen. Und diesen oder jenen Abschnitt speicherte sie auf Band und spulte es durch den kleinen Vokalisator, um den Schülern zu demonstrieren, wie Englisch ausgesprochen werden sollte. Die mechanische Stimme des Vokalisators strotzte von Perfektion – wie immer; aber sie entbehrte – ebenfalls wie immer – jeglicher Persönlichkeit. Manchmal fragte sie sich, ob es klug war, die Schüler zu einer Sprache zu erziehen, die jede Individualität ausschloß und lediglich zur Entwicklung einer massendurchschnittlichen Akzentuierung und Intonation führte. Heute jedoch widmete sie diesem
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