Titan 05
jede Intelligenz, die unter dem Zwang steht, das Unlösbare zu lösen, in den Wahnsinn geflüchtet. Er verstand sich selbst nicht mehr, geschweige denn Gott. Und in seine Gedanken schlich sich die Vermutung ein, daß auch Gott sich selbst nicht völlig verstehen konnte.
»Kann eine Schöpfung sich ihrem Schöpfer widersetzen, Doc? Und sollte sie es tun, wenn sie es kann?«
»Die meisten Kinder müssen es tun«, antwortete der Doktor. Dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Es ist dein Problem, Amos. Ich kann nicht mehr tun, als dich auf ein paar Dinge aufmerksam zu machen. Vielleicht ist es auch nicht so wichtig, wie wir meinen. Wir sind noch mitten im besetzten Gebiet, und bald wird es Tag.«
Das Boot trieb weiter, während Amos seine Gedanken zu ordnen suchte und nur noch tiefer in die Verwirrung hineingeriet. Was konnte ein gläubiger Diener Gottes tun, wenn er entdeckte, daß sein Herr alles verwarf, was er je für gut gehalten hatte?
Eine Version von Kants kategorischem Imperativ kam ihm in den Sinn; jemand hatte sie ihm einmal vorgetragen, wahrscheinlich der Doktor selbst. »Behandle die Menschheit, sei es in deiner eigenen Person oder in der eines anderen, in jedem Fall als einen Wert und ein Ziel an sich, niemals nur als ein Mittel.« Behandelte Gott die Menschheit jetzt als ein Ziel, oder bloß als ein Mittel zu irgendeinem Zweck, in welchem der Mensch versagt hatte? Und hatte die Menschheit ihrerseits Gott jemals ernsthaft als ein Ziel betrachtet, statt als ein Mittel zu geistiger Unsterblichkeit und zur Beruhigung der Todesfurcht?
»Wir werden verfolgt!« sagte der Doktor auf einmal mit gepreßter Stimme. Er zeigte zurück, und Amos konnte den bleichen Strahl eines Scheinwerfers durch eine Flußbiegung tasten sehen. »Paß auf – dort drüben steht ein Haus. Sobald der Kahn das Ufer berührt, laufen wir hinüber!«
Er legte sich in die Riemen, und wenige Augenblicke später stieß der Kahn gegen die Uferböschung. Sie sprangen hinaus, ließen den Kahn von der Strömung mitnehmen. Das Gebäude lag dreißig oder vierzig Meter vom Flußufer entfernt und machte einen verlassenen Eindruck. Im Näherkommen konnten sie sehen, daß es seit langem leerstehen mußte. Das Dach war eingesunken, Teile der Bretterverkleidung im Obergeschoß fehlten, leere Fensterhöhlen gähnten. Der Doktor stieg durch eine dieser Öffnungen und half Amos, nachzukommen.
Als sie zurückblickten, sahen sie das Boot der Verfolger auf dem Fluß vorübergleiten. Ein Mikhtschah ruderte, einer kauerte mit einer Schußwaffe im Bug, und ein dritter stand im Heck und bediente einen auf ein Stativ montierten Handscheinwerfer. Sie entfernten sich rasch, ohne das verfallene Gebäude zu beachten.
»Wir werden hier unterkriechen müssen«, entschied der Doktor. »In einer halben Stunde wird es Tag. Vielleicht werden sie nicht auf den Gedanken kommen, eine Ruine wie diese zu durchsuchen.«
Sie fanden eine brüchige Holztreppe ohne Geländer und streckten sich auf den staubigen Dielenbrettern eines leeren Zimmers im Obergeschoß aus. Amos suchte ächzend nach einer Lage, die seine schmerzenden Glieder nicht noch mehr peinigte, aber dann war er urplötzlich eingeschlafen.
Einmal wachte er auf und sah helles Tageslicht hinter zerbrochenen Fensterläden. In der Nähe war ein heftiges Feuergefecht im Gang. Ein langer Feuerstoß aus einem Maschinengewehr rasselte wie Hagel auf Dachpfannen, dann wurde es wieder still.
Der Doktor weckte ihn, als es dunkelte. Es gab nichts zu essen, und Amos fühlte sich noch immer schwach und elend. Jeder Knochen im Leib schmerzte ihn, und das Marschieren war ihm eine Qual. Der Doktor beobachtete die Sterne, schien sich für einen Kurs zu entscheiden und gab die Richtung an. Sein Schnaufen und Ächzen deutete darauf hin, daß er Amos’ Empfindungen teilte.
Trotzdem fand er nach einiger Zeit genug Energie, um das Gespräch fortzusetzen. »Ich frage mich immer noch, was Smithton gesehen haben mag. Es kann nicht nur das gewesen sein, was wir sahen. Und was ist mit den Legenden über einen Krieg in den himmlischen Gefilden? Gab es dort nicht einen gewaltigen Kampf, den Luzifer beinahe gewonnen hätte? Vielleicht steht Luzifer nur für irgendeine andere Rasse, die von Gott verworfen wurde?«
»Luzifer war Satan, der Geist des Bösen. Er versuchte das Gottesreich zu erobern.«
»Mmm. Ich habe irgendwo gelesen, daß wir nur den Bericht des Siegers haben, der notwendigerweise eine ziemlich einseitige Schilderung sein
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