Der Himmel über New York (German Edition)
1.
Flughöhe: 9915 Meter
Geschwindigkeit: 915 km/h
Außentemperatur: – 48 °C
Uhrzeit am Zielort: 6:30
Uhrzeit am Abflugort: 12:30
Verbleibende Flugzeit: 7 Stunden, 37 Minuten
N och sieben Stunden und siebenunddreißig Minuten, dann beginnt mein Leben.
Deutschland ist so groß wie mein Daumen. Nicht viel mehr als ein Fingerabdruck auf dem Bildschirm, den ich aus meiner Armlehne geklappt habe. Ein winziges Flugzeug rückt millimeterweise vor, tastet sich Stückchen für Stückchen entlang auf einem roten Halbkreis von Frankfurt über Grönland und Kanada an die Ostküste der USA.
Schade, dass ich keinen Fensterplatz mehr bekommen habe und weder Gletscher noch Packeis sehen werde. Stattdessen sitze ich auf dem mittleren Platz der mittleren Reihe. Ein Katzentisch über den Wolken, weil sich keine der beiden Flugbegleiterinnen mit den Getränkewagen für mich zuständig fühlt und ich um jede Cola kämpfen muss. 27 E – immerhin steckt eine Sieben in der 27. Das bringt Glück.
Hoffe ich zumindest. Ich kann es gebrauchen.
Links von mir schnarcht ein Männchen unter einer Schlafbrille. Rechts von mir sitzt eine Frau, die so fett ist, dass sie ihr linkes Bein unter den Sessel vor mir schieben muss, weil sie sonst nicht genügend Platz hätte. Ihre Wade reibt sich an meiner, als wären wir ein Liebespaar. Sie trägt ein zeltartiges Kleid mit schwarzen Punkten, in dem sie wie ein überdimensionaler Marienkäfer aussieht. Mit einer Zeitung fächelt sie sich Luft zu und den Geruch nach Schweiß und einem süßlichen Parfüm in meine Richtung. Ein schlechter Tausch. Aber das wird wohl die nächsten siebeneinhalb Stunden und sieben Minuten so weitergehen.
Die Landkarte auf dem Bildschirm verschwindet, macht einem tiefblauen Hintergrund und weißer Schrift Platz. Auf Kanal drei erscheint die Fluginformation auf Englisch. Time at destination: 6:34 a.m . Manhattan am Morgen, das kann ich mir vorstellen. Ich bin zwar noch nie dort gewesen, aber wer hat sie nicht im Kopf, diese New-York-Bilder? Szenen aus Filmen und Fernsehserien, aus meinen alten Englischbüchern, von den Schwarz-Weiß-Postern, die in Studentenkneipen auf dem Gang zum Klo hängen. Zum Beispiel das: Ein Saxofonspieler steht in der Morgendämmerung auf einer verlassenen Straßenkreuzung, Hochhausfassaden spiegeln sich in den schwarzen Gläsern seiner Sonnenbrille, er selbst spiegelt sich in einer Pfütze. Oder dies hier: vier Freundinnen auf dem Weg zum Brunch, beieinander eingehakt, flankiert von riesigen, bonbonbunten Tragetaschen voller neuer Schuhe, in denen kein Mensch laufen kann. Noch so ein Klassiker: Audrey Hepburn mit Perlenkette und Hochsteckfrisur trägt einen Pappbecher über die 5 th Avenue spazieren. Ich setze meine Kopfhörer auf, suche nach dem Kanal Pop Classics und finde ein Lied, das ich kenne. Die Musik passt zu dem Film in meinem Kopf. What about breakfast at Tiffany’s?
Ich mache die Augen zu, stelle die Lehne zurück, drehe die Lautstärke auf und fühle mich frei. Zum ersten Mal in meinem Leben kann ich tun, was ich will. Niemand wird mich fragen, wann ich nach Hause komme und mit wem, ob ich schon gegessen habe und ob ich, verdammt noch mal, endlich mal meine Kopfhörer absetzen kann, weil man, verdammt noch mal, gerade mit mir redet. Aber wenn ich sie dann wirklich absetze und die Musik über die Lautsprecher laufen lasse, ist es auch wieder nicht recht. Weil garantiert zu laut.
Die Marienkäferfrau tippt mich an. »Könnten Sie mal die Musik leiser stellen? Dieses Gewummer geht ja durch und durch!«
Ach ja, ich vergaß: Manche Leute meckern sogar über beides gleichzeitig. Kopfhörer und Lautstärke.
Ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen, dass mich Leute siezen. Solange ich denken kann, waren Die Erwachsenen immer die anderen: Lehrer, Eltern, Freunde von Eltern. Auf einmal gehöre ich selbst zum anderen Lager. Seit 14 Monaten darf ich Auto fahren, eine Firma gründen oder den Bundeskanzler wählen. Meine Freundinnen bezeichnen sich nicht mehr als Mädchen , sondern als Frauen . Es gibt auch keine Jungs mehr, sondern die Männer . Keiner dieser Begriffe passt mir. Worte wie T-Shirts, in einer Größe zu eng, in der nächsten zu weit.
An meinen Nachnamen kann ich mich auch nicht gewöhnen. Wenn jemand Frau Ritter ruft, drehe ich mich um und schaue, ob irgendwo meine Mutter steht. Auch so ein Wort, in das ich erst hineinwachsen muss.
Ich setze die Kopfhörer ruckartig ab, denn ich möchte ungern in mehreren
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