Titan 12
oder das Schicksal eines Unglücklichen ihr Mitgefühl erregt hatte; Underhill war überhaupt der Ansicht, daß es sich bei all ihren Mietern um Diebe oder Vandalen handelte.
Mit den sauberen Leintüchern im Arm drehte sie sich zu ihm um. »Liebling, jeder Widerspruch ist sinnlos«, sagte sie in sehr entschiedenem Ton. »Mr. Sledge ist ein netter alter Herr, und er wird solange bleiben, wie er Lust hat.«
»Schon in Ordnung, Liebes.« Er hatte nichts übrig für Zankereien und dachte in diesem Moment außerdem an die Schwierigkeiten mit der Firma. »Ich fürchte, wir werden das Geld dringend brauchen. Sieh nur dazu, daß er im voraus zahlt.«
»Das kann er aber nicht!« In ihrer Stimme lag herzliches Mitgefühl. »Noch nicht. Er sagt, daß er Einkünfte aus seinen Erfindungen erwartet. In ein paar Tagen kann er zahlen.«
Underhill zuckte mit den Achseln; das hatte er schon oft gehört.
»Mr. Sledge ist anders, Liebling«, bekräftigte sie. »Er ist Reisender und Wissenschaftler. In diese dumme kleine Stadt kommen nicht viele interessante Menschen.«
»Du hast dir schon einige sehr bemerkenswerte Typen herausgesucht.«
»Sei doch nicht so unfreundlich, Liebling«, schalt sie ihn freundlich. »Du hast ihn ja noch nicht gesehen und kannst also gar nicht wissen, wie wunderbar er ist.« Sie zögerte einen Moment. »Hast du einen Zehner, Liebling?«
»Wofür?«
»Mr. Sledge ist krank.« Ihre Stimme wurde drängender. »Ich habe mitangesehen, wie er in der Stadt hingefallen ist. Die Polizei wollte ihn ins City‐Hospital bringen, aber er war damit nicht einverstanden. Er sah so edelmütig und süß und bedeutend aus. Ich habe gesagt, daß ich mich um ihn kümmern werde, schaffte ihn in den Wagen und fuhr zum alten Dr. Winters. Er ist herzkrank und braucht das Geld für seine Medizin.«
»Und warum will er nicht ins Krankenhaus?« erkundigte sich Underhill zweifelnd.
»Er hat eine Arbeit zu erledigen«, sagte sie. »Wichtige wissenschaftliche Arbeit – und er ist eine so wundervolle, tragische Person. Bitte, Liebling, hast du einen Zehner?«
Underhill wollte eigentlich vieles sagen. Diese neuen Maschinen versprachen, seine Sorgen zu vervielfachen. Es war eine Narretei, einen kranken Vagabunden bei sich aufzunehmen, der im Krankenhaus kostenlose Pflege erhalten würde. Auroras Mieter bezahlten die Miete generell mit Versprechungen, schlugen die Wohnung kurz und klein und plünderten die Nachbarn aus, bevor sie auf Nimmerwiedersehen verschwanden.
Aber er sagte von alledem nichts. Er hatte es gelernt, Kompromisse zu schließen. Schweigend zog er zwei Fünf‐Dollar‐Scheine aus seiner dünnen Brieftasche und drückte sie ihr in die Hand. Sie lächelte und küßte ihn impulsiv – er erinnerte sich gerade noch rechtzeitig daran, den Atem anzuhalten.
Dank wiederholter Schlankheitskuren war ihre Figur immer noch sehr gut. Er war stolz auf ihr leuchtend rotes Haar. Eine plötzliche Gefühlswoge trieb ihm die Tränen in die Augen, und er fragte sich, was aus ihr und den Kindern werden würde, wenn er mit der Firma versagte.
»Danke, Liebling«, flüsterte sie. »Wenn er sich gut genug fühlt, lade ich ihn zum Essen ein. Da kannst du ihn dann kennenlernen. Ich hoffe, daß es dir nichts ausmacht, erst so spät zu essen.«
Heute machte ihm nichts mehr etwas aus. Von einem plötzlichen Häuslichkeitsgefühl getrieben machte er sich daran, Hammer und Nägel aus der Heimwerkstatt im Keller zu holen und das durchhängende Fliegengitter der Küchentür mit zwei diagonal verlaufenden Leisten zu befestigen.
Er arbeitete gerne mit den Händen. Als Kind hatte er davon geträumt, Kernkraftwerke zu bauen. Er hatte sogar Ingenieurswesen studiert, bevor er Aurora heiratete und die schlecht gehende Maschinenfirma von ihrem faulen und alkoholabhängigen Vater übernehmen mußte. Als er die kleine Reparatur erledigt hatte, pfiff er fröhlich vor sich hin.
Als er durch die Küche ging, um die Werkzeuge zurückzubringen, sah er, wie der Haushaltsandroide die unberührten Teller wieder wegräumte – die Androiden waren gut genug, um eindeutige Routineaufgaben zu übernehmen, aber sie konnten niemals lernen, sich auf die menschliche Unberechenbarkeit einzustellen.
»Halt, halt!« Dieser Befehl, langsam ausgesprochen, mit der richtigen Betonung und im richtigen Rhythmus, ließ den Androiden innehalten. Dann fuhr er langsam fort: »Teller – hinlegen. Teller – hinsetzen.«
Sofort gehorchend kam das große Ding mit den Tellern
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