Titan - 2
die Siedlung in Ihre Obhut, Häuptling – möge Ihr Volk hier eine neue Zukunft finden!«
Der Häuptling war gut zwei Meter groß, schlank und besaß ein recht eindrucksvolles Profil mit einer Schnabelnase. Seine Kleidung bestand aus ein paar schmierigen, schwärzlichen Lumpen. Offenbar als Zeichen seines Amtes trug er einen mit Ziegenleder überzogenen Stab. Als einziger seines Stammes beherrschte er die Sprache der Kolonisten; zu deren Erstaunen sprach er sie fast ohne Akzent. »Das ist nicht mein Volk«, korrigierte er gleichgültig. »Die Leute tun, was sie wollen. So ist es am besten.«
Erzdiakon Burnette war schon früher dieser Einstellung begegnet. Als toleranter und großherziger Mann empfand er keine Entrüstung, sondern versuchte eher, den Leuten solche irrationalen Ansichten auszureden. »Wollt ihr denn nicht wie zivilisierte Menschen leben? Wollt ihr nicht Gott ehren, ein sauberes, gesundes Leben führen?«
»Nein.«
Der Erzdiakon lächelte. »Nun, wir werden euch jedenfalls nach besten Kräften behilflich sein. Wir können euch Lesen und Rechnen beibringen und eure Krankheiten heilen. Natürlich müßt ihr für Sauberkeit sorgen und euch an ein geregeltes Leben gewöhnen – das ist die Grundlage jeder Zivilisation.«
Der Häuptling grunzte. »Ihr könnt ja nicht einmal Ziegen züchten.«
»Wir sind keine Missionare«, fuhr der Erzdiakon fort, »doch wenn ihr bereit seid, die göttliche Wahrheit aufzunehmen, so wollen wir euch helfen.«
»Hmmm – und was habt ihr davon?«
Der Erzdiakon schmunzelte. »Nichts. Ihr seid unsere Mitmenschen und Brüder; wir sind verpflichtet, euch zu helfen.«
Der Häuptling drehte sich um und rief seine Leute zusammen; flink kletterte die zerlumpte Schar den Geröllhang hinauf.
»Was ist denn los?« rief der Erzdiakon. »Kommen Sie doch zurück!« schrie er dem Häuptling nach, als dieser eilig seinem Stamm folgte.
Der Häuptling blieb auf einem Felsvorsprung stehen. »Nein. Ihr seid alle verrückt.«
»Aber nein, nein«, beteuerte der Erzdiakon. Es war eine bewegende Szene, ein eindrucksvolles Bild: der weißhaarige Erzdiakon, beschwörend dem wilden Häuptling und seinem Stamm zugewendet – ein Heiliger, der eine Horde Satyrn in seinem Bann hielt. Das wechselnde Licht dreier Sonnen sorgte für eine dramatische Beleuchtung.
Irgendwie brachte er den Häuptling dazu, in die neue Siedlung zurückzukommen. Das alte Streunerdorf lag eine halbe Meile höher, in einem Paßeinschnitt, durch den Wind und Wetter der Grande Montagne herunterpfiffen, so daß selbst die Ziegen nur mit Mühe Halt an den felsigen Hängen fanden. Das alte Dorf war kalt, düster und trostlos. Der Erzdiakon zählte eindringlich alle Nachteile auf. Der Häuptling stellte fest, daß er trotzdem das alte Dorf der neuen Siedlung vorziehe.
Fünfzig Pfund Salz ließen ihn seine Meinung ändern, nachdem der Erzdiakon erst einmal seine Prinzipien bezüglich Bestechungsgeschenken über Bord geworfen hatte. Etwa sechzig Angehörige des Stammes zogen mit einer Art amüsierter Gleichgültigkeit in die neuen Hütten ein, so als hätte der Erzdiakon sie gebeten, irgendein kindisches Spiel zu veranstalten.
Nochmals segnete der Erzdiakon das neue Dorf; die Kolonisten knieten nieder, die Streuner schauten neugierig aus Türen und Fenstern ihrer neuen Heime zu. Weitere zwanzig oder dreißig kamen mit einer Ziegenherde den Felshang herunter, die sie gleich in der kleinen Kapelle einquartierten. Das Lächeln von Erzdiakon Burnette wurde etwas starr; er wirkte schmerzlich berührt, aber er griff in keiner Weise ein, was ihm sicherlich nicht leichtfiel.
Eine Weile später kehrten die Kolonisten hinunter ins Tal zurück. Sie hatten getan, was sie konnten, aber sie waren sich nicht ganz sicher, was sie damit erreicht hatten.
Zwei Monate später war Neustadt verlassen. Bruder Raymond und Schwester Mary Dunton wanderten durch die Siedlung und sahen nur dunkle Fenster und offenstehende Türen.
»Wo sind sie alle hin?« fragte Mary mit gedämpfter Stimme.
»Sie sind verrückt«, stellte Raymond fest. »Komplett verrückt.« Er ging zur Kapelle und streckte den Kopf durch den Torspalt. Plötzlich krampfte sich seine Hand um den Türstock, daß die Knöchel weiß wurden.
»Was ist?« fragte Mary beunruhigt.
Raymond hielt sie zurück. »Leichen… Hier sind – zehn, zwölf, vielleicht fünfzehn Tote.«
»Raymond!« Sie blickten einander an. »Warum? Weshalb?«
Raymond schüttelte den Kopf. Als hätte sie ein
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