Titan 22
könnte – das heißt natürlich, wenn mir das gelingt, was ich vorhabe.«
Ich fand, daß der Schluß etwas lahm klang, und so sagte ich ihm, da es ohnehin schon spät war, Gute Nacht, ging nach Hause und ins Bett.
Ich glaube, daß es etwa einen Monat später so weit kam, daß Dr. Ordway es schließlich schaffte, die Z-Säure zu synthetisieren. Ich sage ›glaube‹, weil Schneider nur wenige Tage später, am 5. Januar 1950, die Bleispaltung ankündigte, und nachher war natürlich alles andere vergessen.
Die Sensation, die die Entdeckung des kleinen, rothaarigen Physikers auslöste, überstieg alle Beschreibungen. Natürlich hätte man das auf weniger sensationelle Art und Weise bewerkstelligen können, aber dafür trifft am allerwenigsten Schneider die Schuld.
Dr. Schneider, müssen Sie wissen, war sowohl ein vorsichtiger als auch ein schweigsamer Mann. Möglicherweise hat er die Folgen seiner Arbeit geahnt, aber er war einfach nicht bereit, sich zu exponieren, so lange er nicht absolut sicher war. Vielleicht hatte ihn auch der Ruhm etwas verängstigt, der Oppenheimer seit Los Alamos verfolgt hatte. Und die Atomenergie-Kommission, die sich ganz auf die absurde Hypothese festgelegt hatte, daß Kernspaltung nur in Uran, Thorium und Plutonium stattfinden konnte, überprüfte seine Berechnungen überhaupt nicht.
Jedenfalls tat er etwas Blei 204 und eine kleine Menge gewöhnlichen Bleis in ein Motorboot, verankerte sein Experiment mit einem Zeitzünder in zwanzig Meilen Entfernung vom Ufer im Michigan See, und zog sich dann klugerweise ans Ufer zurück, um auf das Resultat zu warten.
Er brauchte nicht lange zu warten. Schneider hatte nie die Explosion einer Plutoniumbombe erlebt, aber als er den riesigen Feuerball und die Wolke aus Rauch und Dampf sah, die sich bald darauf fünfzehn Meilen hoch in den Himmel auftürmte, wußte er, was er hatte.
Fast hätte er sich dieses Wissens nicht lange erfreuen können, weil sein Boot nämlich von der Gezeitenwelle fast überflutet wurde, die sich kurz darauf über den Horizont heranwälzte. Dieselbe Welle donnerte in Chicago ans Ufer, schleuderte Jachten in den Grand Park und überschwemmte den größten Teil des Loop. Schneider, der keine Spur mehr von seiner eigenen Ankerstelle finden konnte, watete in der Nähe des Planetariums ans Ufer und winkte sich ein Taxi herbei.
Bis er sein Labor erreichte, war er bereits berühmt. Die Presse erwartete ihn am Eingang, und es kam zu einem Interview, das inzwischen der Geschichte angehört.
»Sagen Sie uns, Dr. Schneider, war das eine U-235 oder eine Plutoniumbombe?«
»Keines von beiden. Das war Blei.«
»Blei? Aber Blei ist doch stabil!« Das war ein ehemaliger Physikstudent.
»Es ist stabil«, pflichtete der Wissenschaftler naß und konfus bei, »bis es durch Emissionen von Blei 204 aktiviert wird.«
Jetzt flogen die Bleistifte übers Papier. Vielleicht dachte Schneider, es handle sich um eine Seminarklasse, die sich Notizen machte.
»Meine Bombe, wenn Sie sie so nennen wollen, bestand aus fünfhundert Gramm gewöhnlichem Blei. In das Blei ist ein Loch von einem halben Zentimeter Durchmesser gebohrt worden, in das ich zwei Milligramm Blei 204 plaziert habe, die ich mittels eines Massenspektrographen aus einem durch den Fusionsprozeß mit leichteren Isotopen angereicherten Muster separiert habe. Das Blei 204 ist vermittels eines elektrischen Funkens auf hohe Temperatur gebracht worden, wodurch eine thermonukleare Desintegration ausgelöst wurde. Die Emission dieses im Detail ziemlich komplizierten Prozesses hat gleichzeitig in der ganzen Bleimasse eine Kernspaltung verursacht…«
Damit war es draußen, und der Schaden war angerichtet. Der Chicagoer Vertreter der AEC, der vor der Küste von Florida beim Fischen war, las in einer Zeitung in Miami davon. Was er dazu zu sagen hatte, ist uns nicht überliefert.
Binnen eines Tages wußte es die ganze Welt.
Zuerst prahlten die Schlagzeilen:
AMERIKA HAT ES ERNEUT GESCHAFFT! UNSERE FÜHRERROLLE IN DER NUKLEARPHYSIK IST JETZT UNANGEFOCHTEN. Und dann wurde der Ton ängstlicher: ATOMKRIEG WIEDER MÖGLICH; BLEIBOMBEN ERSCHRECKEN DIE Welt. Und etwas ungenau: JEDER BLEISTIFT EINE GEFAHR!
Die Atomenergie-Kommission und anschließend auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen traten zu Sondersitzungen zusammen. Dr. Schneider wurde vorgeladen und zerfloß in Tränen und Bedauern. Der Sicherheitsrat sprach sich zunächst dafür aus, ihn wegen internationalen Hochverrats vor Gericht
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