Titan 3
den Mann mit der Augenprothese. »Was meinst du, Auge?«
»Verkauft das Mädchen. Für so junge Organe werden Höchstpreise bezahlt«, sagte Auge rauh.
»Ach«, sagte der Albino lüstern, »du kannst ja nicht sehen, was für eine hübsche kleine Göre das ist. Für dich ist sie nur ein Muster von hellen Punkten vor einem grauen Hintergrund. Für uns dagegen ist sie rosig und knusprig und…«
»Eines Tages gehst du zu weit«, sagte Auge ruhig.
»Bei ihr doch nicht.«
Unter Harrys Fuß zerbrach ein dürrer Zweig. Alle verstummten und horchten. Harry zog leise seine Waffe aus dem Halfter.
»Bist du das, Ralph?« fragte der Albino.
»Ja«, brummte Harry und hinkte näher zum Feuer, achtete aber darauf, daß sein Gesicht im Schatten blieb. Die Waffe verbarg er in einer Falte seines Hosenbeins.
»Stellt euch vor«, sagte der Albino, »das Mädchen behauptet, die Tochter des Gouverneurs zu sein.«
»Das bin ich auch«, sagte Marna laut und deutlich. »Er wird euch für das, was ihr tun wollt, langsam in Stücke hacken lassen.«
»Aber ich bin doch der Gouverneur, Süße«, erklärte der Albino mit Falsettstimme, »und es ist mir…«
Auge unterbrach scharf: »Das ist nicht Ralph. Sein Bein ist in Ordnung.«
Harry verfluchte sein Pech. Die Augenprothese, ein nach dem Radarprinzip arbeitendes Gerät, ließ ihn offenbar mehr ›sehen‹, als ein normales Auge dies vermocht hätte.
»Lauf!« schrie Harry in das plötzliche Schweigen.
Sein erster Schuß galt Auge. Der drehte sich eben um, so daß die Kugel seine Batterie traf. Er begann zu schreien und wild nach seiner Augenprothese zu greifen. Harry kümmerte sich nicht um ihn, sondern feuerte eine Garbe in den Überhang oberhalb des Lagerfeuers. Die Hitze hatte den Lehm längst brüchig werden lassen, und jetzt stürzte der ganze Böschungsrand ein, erstickte das Feuer und begrub mehrere der herumsitzenden Edlinge.
Harry warf sich auf die Seite. Mehrere Kugeln pfiffen knapp an ihm vorbei. Er beeilte sich, wieder in den Wald zu kommen, und rannte einfach weiter. Immer wieder prallte er gegen Bäume, aber er raffte sich auf und hetzte weiter. Irgendwann verlor er die Lampe. Nach einer Weile blieben die Verfolger zurück, und es wurde still.
Unvermittelt rannte er gegen etwas Weiches, Warmes, das durch den Anprall zu Boden geschleudert wurde. Er stolperte darüber und holte noch im Fallen mit der Faust aus.
»Harry!« rief Marna unterdrückt.
Seine Faust wurde zu einer Hand, die nach ihr griff und sie fest an sich zog. »Marna!« keuchte er. »Ich wußte es nicht. Ich hab’ nicht geglaubt, daß ich es schaffe. Ich dachte, du bist…«
Die beiden Armreifen klirrten aneinander. Marna erstarrte plötzlich und stieß ihn weg. »Wir wollen nicht sentimental werden«, sagte sie wütend. »Ich weiß doch, warum Sie es getan haben.«
Harry holte zornig Luft, seufzte dann aber nur. Was für einen Sinn hatte es denn? Sie würde ihm nie glauben. Warum auch? Er war sich ja selbst nicht sicher, warum er es getan hatte. Jetzt, da es vorbei war, und er Zeit hatte, sich zu überlegen, welche Risiken er eingegangen war, begann er zu frösteln. Mit geschlossenen Augen saß er in der Dunkelheit und versuchte, sein Zittern zu unterdrücken.
Marna streckte zögernd die Hand aus, berührte seinen Arm, wollte etwas sagen – aber dann besann sie sich, und der Augenblick war vorüber.
»Wir müssen warten, bis sie die Suche aufgeben«, flüsterte er.
Wenigstens hatte er die größte Gefahr beseitigen können: Auge mit seiner Radarprothese, der in der Dunkelheit ebensogut sehen konnte wie bei Tag.
Sie saßen im Finstern und warteten, den Geräuschen des Waldes lauschend. Eine Stunde verging. Harry wollte eben sagen, daß es jetzt vielleicht sicher sei, aufzubrechen, als er ganz in der Nähe etwas rascheln hörte. Ein Tier oder ein Feind? Marna, die nichts mehr gesagt und ihn auch nicht mehr berührt hatte, griff erschrocken nach seinem Arm. Harry ballte die Fäuste.
»Dr. Elliott?« flüsterte Christopher. »Marna?«
Erleichterung durchflutete ihn wie ein Lebenselixier. »Du erstaunlicher kleiner Kobold! Wie hast du uns nur gefunden?«
»Opa hat mir geholfen. Er hat einen sechsten Sinn dafür. Ich auch, aber er ist besser. Kommt!« Harry spürte, wie sich eine kleine Hand in die seine legte. Christopher führte sie durch das Dunkel. Harry war anfangs noch mißtrauisch, aber als der Junge sie vor näherer Bekanntschaft mit Büschen und Bäumen bewahrte, bewegte er sich mit
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