Titan 3
mehr auf jene, die sie sich leisten konnten. Trotz aller Fortschritte wurden immer weniger Menschen immer gesünder. Waren die anderen denn nicht auch Menschen?«
Harry runzelte die Stirn. »Gewiß. Aber es waren die reichen Gönner und die Stiftungen, die den Fortschritt erst ermöglichten. Deshalb mußten diese Leute vorrangig behandelt werden, damit die medizinische Forschung fortgesetzt werden konnte. Das ist doch logisch.«
»Und so wurde die Gesellschaft zu einem abscheulichen Zerrbild«, flüsterte Pearce. »Alles opferte man dem Gott der Medizin – alles, damit ein paar Leute ein paar Jahre länger leben konnten. Wer bezahlte die Rechnung? – Das seltsame Ergebnis war, daß diejenigen, die behandelt wurden, als Klasse weniger gesund waren als jene, die ohne medizinische Hilfe überleben mußten. Man rettete alle Frühgeburten, damit sie ihre Schwächen weitergeben konnten. Defekte, die sich bereits in der Kindheit als tödlich erwiesen hätten, wurden behoben, so daß der Patient erwachsen werden konnte. Schädliche Eigenschaften wurden weitervererbt. Die körperlich Untüchtigen vermehrten sich und bedurften immer größerer Aufmerksamkeit und medizinischer Fürsorge…«
Harry richtete sich entrüstet auf. »Was für eine medizinische Ethik ist denn das? Die Medizin darf weder die Kosten berücksichtigen noch Wertmaßstäbe anlegen. Ihre Aufgabe ist es, die Kranken zu behandeln.«
»Ja. Diejenigen, die es sich leisten können. Wenn die Medizin nicht wertet, dann wird es jemand anders tun: die Macht, das Geld oder die Natur. Nun, eines Tages hatte ich genug von all dem. Ich ging zu den Bürgern, die noch eine Zukunft haben, wo ich helfen konnte nach natürlichen und nicht nach gesellschaftlichen Maßstäben. Sie nahmen mich auf, sie gaben mir zu essen, wenn ich hungrig war, lachten mit mir, wenn ich glücklich war, und sie weinten mit mir, wenn ich Kummer hatte. Sie wußten, was Mitfühlen heißt, und ich half ihnen, so gut ich konnte.«
»Wie?« fragte Harry. »Ohne Diagnosemaschinen, ohne Medikamente und Antibiotika?«
»Der menschliche Geist«, antwortete Pearce leise, »ist immer noch die beste Diagnosemaschine. Und das beste Antibiotikum. Ich habe die Menschen berührt. Ich habe ihnen geholfen, sich selbst zu heilen. So wurde ich ein Heiler und kein Techniker. Unser Körper will sich selbst heilen, wissen Sie, aber unser Verstand erteilt Gegenbefehle und Todesanweisungen.«
»Medizinmann!« sagte Harry verächtlich.
»Ja. Die hat es immer gegeben. Heiler. Erst in unserer Zeit wurden Arzt und Heilender zu zwei verschiedenen Personen. Zu allen anderen Zeiten waren die Menschen mit der heilenden Berührung die Ärzte. Es gab sie früher, es gibt sie noch jetzt. Zahllose Heilungen bezeugen es. Heute nennen wir das leichtfertig Aberglauben. Und trotzdem wissen wir, daß manche Ärzte, die weder klüger noch erfahrener sind als andere, weit mehr Erfolge haben. Manche Krankenschwestern – nicht immer die hübschesten – erwecken in ihren Patienten den Wunsch, gesund zu werden.
Sie brauchen zwei Stunden für eine genaue Untersuchung, und ich zwei Sekunden. Eine volle Behandlung durchzuführen, mag Sie Monate oder Jahre beanspruchen; ich habe nie länger als fünf Minuten gebraucht.«
»Aber Sie haben doch überhaupt keine Kontrolle!« fuhr Harry auf. »Wie wollen Sie beweisen, daß Sie diesen Leuten geholfen haben? Wenn Sie Ursache und Wirkung nicht in Verbindung bringen können, wenn niemand anderer Ihre Behandlung zu wiederholen vermag, dann ist das keine Wissenschaft mehr, und es läßt sich nicht lehren.«
»Wenn ein Heiler Erfolg hat, weiß er es«, flüsterte Pearce. »Sein Patient auch. Und was das Lehren anbelangt – wie wird Kindern das Sprechen gelehrt?«
Harry hob ungeduldig die Schultern. Pearce hatte auf alles eine Antwort. Es gab Menschen, die so in ihrem Wahn verharrten, daß man sie nie davon überzeugen konnte, der Rest der Menschheit sei normal, so normal, wie sie verrückt waren. Der Mensch mußte sich auf die Wissenschaft stützen – nicht auf Aberglauben und Quacksalberei, Gesundbeter und Medizinmänner. Sonst fiel er ins finsterste Mittelalter zurück.
Er streckte sich auf dem Laubbett aus. Marnas Nähe war ihm bewußt wie noch nie. Er hatte den dringenden Wunsch, die Hand auszustrecken und sie zu berühren, aber er tat es nicht.
Sonst gab es kein Gesetz, keine Sicherheit… und keine Unsterblichkeit…
Das Armband weckte ihn. Es hatte zu prickeln begonnen.
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