Titan 5
Außerdem, was könnten wir schon tun? Die Toten bestatten? Es sind zu viele.«
Er kehrte ins Schlafzimmer zurück. Als Amos in den Wohnraum trat, begann ein Fernsehsprecher verspätet Evakuierungsaufforderungen an alle Bürger des Gebiets zwischen Clyde und Topeka zu verlesen. Auch er sagte, man solle bis zum Abend warten. Aus irgendeinem Grund schienen die Fremden nächtliche Bewegungen kleinerer Objekte nicht auszumachen.
Nach einer Weile kam der Arzt wieder heraus, und Amos blickte ihm erwartungsvoll entgegen. Ein Gedanke beherrschte sein Bewußtsein. »Ruth kann nicht fortgebracht werden, nicht wahr, Doktor?«
»Nein, Amos. Aber das wird auch keine große Rolle spielen. Du solltest jetzt zu ihr hineingehen; sie scheint zu sich zu kommen. Ich werde unterdessen das Mädchen wecken, damit es bei den Vorbereitungen helfen kann.«
Amos ging so leise wie er konnte ins Schlafzimmer, aber die Behutsamkeit war unnötig. Ruth war wach und bei klarem Verstand, als ob das Bewußtsein ihres nahenden Todes sie gezwungen hätte, die letzten Minuten ihres Lebens zu nutzen. Sie streckte ihm mit matter, schüchtern anmutender Gebärde die schmale Hand entgegen und sagte leise: »Ich weiß es, Amos. Es macht mir nichts aus, nur für dich. Aber es gibt etwas, was ich dich fragen mußte. Amos…?«
Als ihre Stimme versagte, kniete er bei ihr nieder. Gern hätte er das Gesicht an ihrer Schulter geborgen, aber er wagte die wenigen Augenblicke, da er sie noch lebend sah, nicht zu verlieren. Er beugte sich vorsichtig über sie und küßte sie.
»Ich habe dich immer geliebt, Ruth«, sagte er. »Das hat sich bis heute nicht geändert.«
Sie seufzte und lächelte matt. »Dann will ich auch nicht auf Gott eifersüchtig sein, Amos«, sagte sie. Langsam hob sie die Hand und fuhr ihm durch das schüttere graue Haar, und das Lächeln verschönte ihre verbrauchten Züge. »Und gelobt einander Beistand und immerwährende Treue, bis daß der Tod euch scheide…«, wisperte sie.
Wenige Augenblicke später fiel die Hand von ihm, und ihre schmächtige Gestalt streckte sich.
Amos ließ den Kopf an ihre Schulter sinken, und ein einziges Schluchzen würgte seine Kehle. Dann faltete er ihr die Hände auf der Brust, daß die Rechte mit dem abgenutzten billigen Ehering zuoberst lag, und erhob sich mit gebeugtem Kopf.
»Dann soll der Staub zu der Erde zurückkehren, aus der er kam; und die Seele soll zu Gott zurückkehren, der sie gab. Vater, ich danke dir für diesen Augenblick mit ihr. Segne sie, o Herr, und nimm sie gnädig auf.«
Er nickte Doktor Miller und Anne zu. Das Mädchen sah elend aus und starrte ihn mit einem Ausdruck an, darin sich Schrecken und Mitleid mischten.
»Du wirst etwas Geld brauchen, Anne«, sagte er, als Doc ins Schlafzimmer ging, um seine Instrumente einzupacken. »Ich habe nicht viel, aber da ist ein wenig…«
Sie wich zurück, schluckte und schüttelte den Kopf. »Ich habe genug, Vater Strong. Genug, um durchzukommen. Doktor Miller sagte mir, ich könne in seinem Wagen mitfahren. Aber…« Sie blickte ihn fragend an.
»Für mich gibt es noch zu tun«, sagte er. »Ich habe noch nicht einmal meine Abendpredigt vorbereitet. Und die Menschen, die ihre Heimstätten aufgeben, werden Trost brauchen. In Stunden wie diesen brauchen wir alle Gottes Hilfe und Ermutigung.«
Sie folgte Miller ins Schlafzimmer, und Amos setzte sich hinter seinen alten Schreibtisch, öffnete ihn und griff zu Bleistift und Papier.
3
Die Frevler zücken zwar ihr Schwert und spannen ihren Bogen, um Elende und Arme zu erlegen und hinzuwürgen, die geraden Wandels. Allein ihr Schwert dringt in ihr eigen Herz, und ihre Burgen splittern.
Dem Herrn vertraut Halt dich an Seinen Weg! Dann gibt Er dir das Land zu eigen; der Frevler Untergang erlebest du. Ich habe einen Frevler voller Trotz gesehen, wie er so kahl gemacht war wie das Gras im Felde.
Psalm XXXVII, 14-15, 34-35
Es begann zu dunkeln, als sie Anne zum Wagen des Arztes brachten, in dem bereits mehrere Leute aus der Nachbarschaft zusammengedrängt saßen, das Handgepäck auf den Knien. Anne schien die Fassung wiedergewonnen zu haben und war still, ging Amos aber aus dem Wege, wann immer es möglich war. Bevor sie sich zu den anderen in den Wagen zwängte, wandte sie sich zu Doktor Miller.
»Was werden Sie machen, Doktor? Ich hatte schon zuvor fragen sollen, aber…«
»Machen Sie sich um mich keine Sorgen, Kind«, sagte er im gleichen aufmunternden Ton, in dem er seinen alten
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