TITLE
Straße zubringen muß.«
– »Wer zwingt Sie denn, die Nacht auf der Straße zuzubringen?«
– »Habe ich Ihnen nicht schon gesagt, daß ich nicht weiß, wo ich hin soll?« – »Kommen Sie mit mir.« – Ich sah sie wieder an. – »Wer sind Sie?« fragte ich sie. – »Ich bin jemand, der Ihnen bietet, was Sie nicht haben, – Nahrung, Wohnung, Kleider, Geld.« – »Und was verlangen Sie dafür?« – »Das wird man Ihnen später sagen. Jetzt machen Sie schnell. An Zeit fehlt es mir allerdings nicht, wohl aber ruiniere ich meinen Shawl und meinen Hut, wenn ich noch länger hier mit Ihnen plaudere.«
– Ich zögerte. »Gute Nacht denn, schönes Kind,« sagte die elegante Frau und tat einen Schritt, um sich wieder zu ihrem Wagen zurückzuverfügen. »Madame! Madame!« rief ich ihr nach.
– »Nun, haben Sie sich entschlossen?« – »Wenn mir morgen die Absichten, welche Sie mit mir haben, nicht zusagen, wird es mir dann freistehen, Sie wieder zu verlassen?« – »Jawohl; aber es versteht sich, daß Sie mir dann die Auslagen wieder erstatten, die ich vielleicht für Sie gemacht haben werde.« – »Ich folge Ihnen, Madame.« – Ich erhob mich. Der Regen troff mir von den Kleidern herab. – »Setzen Sie sich auf den Vordersitz und schmiegen Sie sich so viel als möglich zusammen.« Ich gehorchte.
Sie schüttelte den Kopf. »Sie befinden sich in einem traurigenZustand! – Apropos, Sie haben doch nicht etwa eine Geschichte mit der Polizei auszumachen?« – »Ich?« – »Ja, Sie.« – »Wie sollte ich etwas mit der Polizei auszumachen haben? Ich habe erst diesen Morgen meine Wohnung verlassen.« – »Ah, Sie hatten eine Wohnung?« – »Ja.« – »Und wo befand sich Ihre Wohnung?« – »In Piccadilly.« – »Piccadilly ist aber keines unserer Quartiere.« – »Keines Ihrer Quartiere? Ich verstehe Sie nicht.« Die elegante Frau sah mich wieder an und spitzte die Lippen. »Das ist wohl möglich,« sagte sie. »Sie haben wirklich ein ehrliches Gesicht und das macht sich sehr gut.« – »Madame,« sagte ich, über diese triviale Ausdrucksweise fast erschreckend, »wenn Sie das Anerbieten, welches Sie mir gemacht haben, bereuen, so bin ich bereit, wieder auszusteigen.« – »Nein, nein, bleiben Sie.« – Dann schlug sie die Wagentür selbst zu und sagte zu dem Kutscher: »Nach Hause!« – Zehn Minuten später hielt der Wagen an der Tür eines Hauses in Haymarket, dessen Fenster sämtlich geschlossen waren.
Es fror mich sehr, als ich aber dieses Haus betrat und die Tür sich hinter mir schließen hörte, fror mich noch mehr. Es war mir, als träte ich in ein Grab. Es war auch in der Tat ein Grab, ein Grab der Keuschheit und Tugend, welches man niemals wieder verläßt, ohne die Spuren jenes moralischen Todes an sich zu tragen, welche noch weit furchtbarer sind als die des physischen.
21. Kapitel.
Mein dringendstes Bedürfnis, selbst noch vor dem der Speise und Trankes, war ein vollständiger Wechsel der Kleidung und ein Bad. Mistreß Love – war dieses Wort, welches »Liebe« bedeutet, ein Spitzname, den ihr die Stammgäste ihres Hauses gegeben, oder eine Laune des Zufalls? – Mistreß Love begriff dieses doppelte Bedürfnis sehr gut, denn sofort nach unserer Ankunft gab sie Befehl, ein Bad zu bereiten und dann wurden frische Wäsche und ein Negligé in das Zimmer gebracht, welches sie für mich bestimmte. Als ich dieses Zimmer betrat, sank ich fast bewußtlos, vernichtet, erstarrt und kaum bemerkend, was um mich her vorging, in einen Lehnstuhl. Mistreß Love beaufsichtigte mit auffallendem Eifer alles selbst und ihr Blick verwendete sich keinen Augenblick von mir. Als das Bad bereitet war, wollte sie selbst die Diensteeiner Zofe bei mir verrichten. Sie unterzog sich diesem Amt mit einer Sorgfalt, die ich mir nicht erklären konnte, um die ich mich aber in der Stumpfheit, in welcher ich befangen war, weiter nicht kümmerte.
Mein Kleid klebte mir auf den Schultern – man trug zu jener Zeit sehr enge Kleider. Mistreß Love riß es ohne weiteres auf und durchschnitt den Senkel meines Schnürleibes mit der Schere. Ehe noch viele Augenblicke vergangen waren, sah ich mich nackt. Obschon ich mich nur in Gegenwart einer Frau befand, so empfand ich doch ein rasch aufsteigendes Gefühl von Scham, welches meine Wangen rötete. Ich flüchtete mich in meine Badewanne, deren durchsichtiges Wasser mir nur einen ungenügenden Schleier ließ. Als ich in dieses laue Wasser hineinkam, empfand ich ein
Weitere Kostenlose Bücher