Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Krankenhaus lag, saß ich an seinem Bett, und er gab einige Witze aus seinem reichhaltigen Repertoire zum Besten:
»Ein Chirurg kommt nach einem freien Wochenende in die Klinik, wäscht sich die Hände, bereit zu operieren. ›Schwester, wie ist es dem Nierenpatienten vom Donnerstag ergangen?‹
›Tut mir leid, Herr Professor, tot.‹
›Ach ja? So was! Und der Darmverschluss von Freitagvormittag?‹
›Verstorben, Herr Doktor.‹
›So, so … Nun gut, die Dame mit dem Herzkatheter?‹
›Defunt. Ebenfalls gestorben.‹
›Nun gut. Schwester, reichen Sie mir bitte den Kittel.‹
›Aber, Herr Professor, Sie wollen weiter operieren?‹
›Na was denn, Schwester, ich habe keine Angst vor dem Tod!‹«
Ich lachte gerne über diesen Witz, diesmal allerdings zögerlich.
»Adriana, es gibt bekanntlich zwei Möglichkeiten: entweder jung zu sterben oder alt zu werden!« So tröstete er mich, bevor er wegdämmerte.
Als er wieder aufwachte, bat er mich, einen Vortrag Korrektur zu lesen, den er noch halten wollte, in der Theologischen Fakultät: »Sterben und Tod, eine jüdische Sichtweise«:
In der jüdischen Tradition werden die Toten mit großer Sorgfalt behandelt. Schon vor Eintritt des Todes muß man darauf vorbereitet sein, diesem Augenblick mit Verständnis und Fassung zu begegnen.
Wie bei anderen alten Religionen gilt es als Sünde, einenJuden unbeerdigt zu lassen, Verbrennungen werden nicht praktiziert.
Der Sterbende wird bis zum letzten Atemzug als Lebender betrachtet. Es ist die heilige Pflicht, neben ihm zu bleiben, damit er im Todesmoment nicht alleine ist. Weinen und Wehklagen ist verboten, damit der Sterbende nicht leiden muß.
Die Spiegel im Haus werden verhüllt, Bilder an den Wänden umgedreht.
Im »Kitel« wird der Tote beerdigt, dem Hemd, das er bereits zur Hochzeit, zum Seder und an Jom Kippur getragen hat.
Als Zeichen der Trauer ist die Selbstverletzung verboten. Asche auf das Haupt, Zerreißen der Kleider, Fasten ist angebracht.
Das »Schma Israel« wird gesungen oder vorgelesen. Bei der Beerdigung das »El mole rachamim«.
Die Trauernden haben folgende Verpflichtungen: Sieben Tage lang sitzen sie Shive.
Sie sitzen nicht auf Stühlen, sondern auf Hockern oder auf dem Boden.
Sie ziehen keine Schuhe aus Leder an.
Sie begrüßen nicht.
Sie arbeiten nicht.
Sie lesen nicht die Thora.
Der Geschlechtsverkehr ist verboten, 30 Tage lang.
Sie schneiden sich nicht die Haare oder rasieren sich.
Sie baden nicht.
Sie waschen nicht die Wäsche.
Sie beteiligen sich nicht an Unterhaltungen, zwölf Monate lang.
»Woher weißt du das alles?«, fragte ich ihn. »Hast du die fünf Bücher Mose abonniert? Du bist weder besonders religiös noch habe ich dich außer medizinischer Fachliteratur jemalsein Buch lesen sehen.« »Das tun Juden nie, und trotzdem wissen sie alles«, war seine bescheidene Antwort.
Seltsam, dachte ich, er gibt mir ganz klare Anweisungen für später. Damit ich alles richtig mache oder damit ich nicht so allein bin mit der Situation, mich nicht so einsam fühle?
Als es ihm immer schlechter ging, bat er mich wieder zu sich, bedeutungsvoll. Ohne meine Mutter sollte ich ihn im Krankenhaus besuchen. Es war später Nachmittag und bereits dunkel. Ich stützte mich auf sein Bett, er näherte sich meinem Ohr, tat, als wollte er flüstern. Nur, dass er wieder nichts sagte. Gar nichts. Ich war ein bisschen verwirrt, und er schlief ein. Als ich nach zwei Stunden ging, hatte ich nichts Neues erfahren, aber eine Ahnung bekommen, dass dieser alt gewordene Held, dieser Patriarch, seine Geheimnisse mit ins Grab nehmen würde.
Am nächsten Tag saß ich wieder an seinem Bett, spielte ihm aus einem winzigen Rekorder neapoletanische Musik vor. Noch während ich darüber nachdachte, ob Menschen im Delirium Musik hören können, riss er die Augen auf, sagte: »Sento tutto« »ich höre alles«, und ich solle den Wagen nehmen, es sei Zeit. Ich lachte blöd und hilflos. »Non far la stupida« »stell dich nicht so blöd an«, waren seine letzten Worte an mich.
Göttingen, Kassel, Marburg, die Autofahrt zieht sich hin, obwohl ich mit »seinem Mercedes« fahre, den er mir bei meinem letzten Besuch ans Herz gelegt hat. Als ich endlich im Krankenhaus ankomme, hat man ihn schon fortgebracht. Mein Vater ist dort gestorben, wo er jahrelang gearbeitet hat, im Poliklinikum der Uniklinik Gießen.
Er hatte dort als Assistenzarzt angefangen, als er nach Deutschland kam, war 30 Jahre lang geblieben
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