Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
servieren. Ich schufte wie ein Tier, sie ist versunken in ein tausendseitiges Nachschlagewerk meines Vaters: »Atlas der Darmerkrankungen. Dickdarm und Analregionen«. Gelegentlich zeigt sie mir nützliche Aufnahmen zur Doppelkontrastmethode. Auf einer sieht man, wie es gelingt, eine Magen-Darm-Sonde einzuführen, ohne den Dickdarm zu perforieren. Überwältigt von diesen medizinischen Details setze ich mich neben sie und trinke mit ihr einen Espresso. Zwischen der medizinischen Fachliteratur finden wir in einem kitschigen goldenen Rahmen eine große Fotografie: die Familie unseres Vaters. In der Mitte unser Großvater Leon, ein notorischer Kartenspieler, daneben seine Frau Regina, die die Familie irgendwie durchbringt, umgeben von ihren sechs Söhnen. Alle sind sie dunkelhaarig, dürr und blass, eine typisch sephardische Familie. Unten links der Jüngste der sechs: unser Vater Jakob. Dalmatien, Split, 1922.
Die Brüder unseres Vaters hießen Buki, Mento, Albert, Miko und Silvio. Mento hieß natürlich nicht Mento, sondern Menachem, Buki hieß Israel und Miko Chaim. Aber wie hätte das auf der Straße in Split geklungen? Wenn sie aus dem Haus traten, waren sie Mento, Buki und Miko.
Die Familie war arm. Die sechs Brüder kamen irgendwie zurecht, manchmal lauerten sie ihrem Vater auf und nahmen – hatte er gewonnen – seine Beute für die Mutter mit. Später machten die zwei ältesten Brüder eigene Geschäfteauf. Mentos Laden wurde eine Art Ramschladen, in dem es alles gab: Radiergummis, Bettlaken, Geschirr. Buki betrieb einen Ankauf-Verkauf, die Geschäfte gingen nicht schlecht. So konnten die beiden Ältesten die Jüngeren finanzieren. Albert, Nr. 3, wurde Rabbiner, zu Ehren Gottes und der Familie. Miko, Nr. 4, wurde Ingenieur und fuhr als solcher zur See. Nr. 5 und 6, Silvio und Jakob, unser Vater, durften studieren und wurden Ärzte. Wahrscheinlich ging es in vielen sephardischen Familien so oder ähnlich zu. Bei Canetti jedenfalls kann man es nachlesen.
Nach Kriegsende fanden sich die Brüder wieder. Man hatte nicht so viele Tote zu vermelden wie die aschkenasischen Familien, die sich deutsch fühlten, die den Deutschen blind vertraut und gar nicht oder viel zu spät die Flucht ergriffen hatten. Die Sepharden waren da vorsichtiger gewesen, sie hatten den Deutschen klugerweise misstraut und waren rechtzeitig geflohen.
Unser Großvater Leon wurde, mitten in einem Kartenspiel deportiert, umgebracht. Er hatte so lange am Spieltisch gesessen, dass er darüber zu fliehen vergaß. Alle anderen aber hatten, als die Italiener ihre Haut zu den Alliierten hinüberretteten und den Deutschen Kroatien ganz überließen, sehr schnell das Weite gesucht. Unser Vater war mit seinem Bruder Silvio bei den Partisanen geblieben. Nach Aussagen meines Vaters war Silvio der Schönste und Begabteste der Brüder. Er starb in den letzten Kriegstagen, in Partisanengefechten. Die offizielle Version lautete, Deutsche hätten ihn erschossen. Großmutter Regina und die anderen Brüder hatten sich ins schon befreite Süditalien retten können.
Nach dem Krieg, zurück in Split, mussten die Brüder erfinderisch sein. Die beiden Ältesten übernahmen wieder ihre Geschäfte, spezialisierten sich. Mento machte aus seinem Laden eine Art Billigmarkt, eine Novität für Split: Zahl eins, nimm zwei. Im Grunde war er der Erfinder der Discountmärkte.
Buki hatte sich für seinen Altwarenladen folgenden Slogan überlegt: Bevor du’s wegwirfst, bring’s zu Buki! Sein Zulauf war enorm. Bevor man in Split etwas in den Müll warf – Zink, Blei, Kupfer –, bot man es ihm an. Um dann wieder bei ihm Einzelteile zu suchen, die in ganz Split nur er hatte! Miko, der auf den Kriegsschiffen der Alliierten so ziemlich alles gesehen hatte, hatte genug von Abenteuern. Er war in Zypern gewesen, wo man die Juden nicht an Land ließ, und in Haifa, wo sie von den Engländern abgewiesen wurden. Er entschloss sich, nach Eretz Israel zu gehen und in Ruhe an der Klagemauer Saft zu verkaufen, für Juden und Christen und andere Touristen. Albert, der Rabbiner, war bis nach New York gekommen, hatte eine kroatische Synagogengemeinde gegründet und lebte mit Frau und Kindern dort, als wäre er noch immer in Split.
Es klang immer wie ein Bericht aus dem Paradies, wenn mein Vater von Split erzählte. Split, immer wieder Split, die engen Gassen der mittelalterlichen Altstadt, gebaut auf den Trümmern des römischen Diokletian-Tempels. Sie waren Straßenkinder, am Strand,
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