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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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in der Synagoge. Die städtische Grundschule, das Wetter, die Promenade, der Rabbiner, übernahmen die Erziehung. Sie spielten Fußball auf der Straße. Sie badeten am flachen Strand von Bačvice, dem öffentlichen Strandbad. Nichtjuden, Juden, Moslems, alle zusammen. Den kleinen Ball am längsten in der Luft halten, das ist »Picigin«, es wird im flachen Wasser noch heute so gespielt, über Stunden, in den langen Sommern Kroatiens. »Picigin« ist ursprünglich ein italienisches Wort, überhaupt sprachen alle Italienisch, nebenbei, ganz beiläufig.
    »Am 12. Oktober 1918 wurde ich, als Jakov Altaras, Sohn von Leon Altaras und seiner Frau Regina in Split (Jugoslawien) geboren. Abitur im Jahre 1936. Im selben Jahr Immatrikulation an der medizinischen Fakultät in Zagreb. Am 5. April gelingtes mir, nach Split zu fliehen, einen Tag vor der deutschen Okkupation. Das war knapp. Da Split unter italienischer Besatzung steht, ist es mir möglich, weiter an italienischen Universitäten zu studieren. Gleichzeitig schließe ich mich Titos Partisanenarmee an. Ich studiere immer unregelmäßiger, schaffe es aber, 1944 in Bari zu promovieren.« So schreibt es mein Vater in seinem Lebenslauf.
    Bei den Partisanen machen ihm die Berge zu schaffen, er kommt von der Küste und sehnt sich nach dem Meer. Doch er ist zäh, das jahrelange Leichtathletiktraining bei Makkabi Split hat ihn gerettet, so scherzt er später, sonst hätte er die meilenlangen Märsche zu Fuß nie überstanden! Er trägt russische Waffen und singt russische Lieder für die Freiheit. Zwei Jahre leitet er seine Brigade, die »prva dalmatinska Brigada« in den Bergen zwischen Schnee und Felsen, bis die Partisanen nach dem Abzug der Italiener die Insel Vis zu Titos Hauptquartier machen können und die Meereskundigen dorthin versetzt werden. Endlich wieder am Meer. Er schwenkt die Fahne in Vis, bereit, gegen den Faschismus zu kämpfen und für Tito sein Leben zu geben. Ein zierlicher, aber ausgesprochen attraktiver Soldat!
    Das alles zeigen die Fotos, die inzwischen ausgebreitet vor uns auf dem Boden liegen. Unser Vater auf seinem ersten Transportmittel, einem Esel. Später im Jeep, mit rotem Stern auf der Mütze und Maschinengewehr über der Schulter. Er hat sie mir oft gezeigt, diese Fotos, und sie mit vielen kleinen Geschichten versehen. Ich kann nicht sagen, was davon erfunden, was Märchen und was wahr ist. »Se non è vero, ben trovato!« – falls es nicht wahr ist, ist es doch gut erfun- den!
    Er war ein glücklicher, vitaler Kerl, ein Stehaufmännchen, ein Impresario seiner selbst. Die Schwermut, die meine Mutter nach dem Krieg nie wieder ganz losgelassen hat, kannte er nicht. Vielleicht, weil er nie im Lager war, weil ihm Demütigungen dieser Art erspart geblieben sind, weil er als Partisan immer auf der Kämpfer- und schließlich auf der Siegerseite stand.
    Irgendjemand kolportierte meinem Vater nach dem Krieg die Wahrheit über den Tod seines Bruders Silvio. Er war nicht von den Deutschen oder der Ustascha, sondern von jemandem aus den eigenen Reihen, also von Partisanen, wegen interner Streitigkeiten kurz vor Kriegsende ermordet worden. Natürlich war das vertuscht worden. Ende der 50er-Jahre begann der Parteizusammenhalt zu bröckeln, der Riss zwischen Tito und Stalin wurde spürbar, die Parteifunktionäre wurden nervös. Mein Vater verfolgte die Sache. Er erhob Anklage, mit dem Ergebnis, dass die Kommunistische Partei nun ihn verfolgte. Die ehemaligen Partisanen wurden nicht gern eines solchen Mordes bezichtigt. Mein Vater, inzwischen eine Berühmtheit in der Partei, bekam einen Schauprozess. Man warf ihm staats- und sozialismusfeindliche Handlungen vor, unter anderem den Besitz von privaten Röntgengeräten. Schriftliche Beweisstücke lagen nicht vor, aber man drohte mit Haft, Arbeitsentzug. Man wollte ihn und seine Anklage loswerden. Einige Denunzianten wurden gefunden, sagten bereitwillig aus. Er floh Hals über Kopf aus Furcht vor Inhaftierung. Seine Enttäuschung war enorm. Er hat nie erfahren, ob der peinliche Prozess, den man ihm machte, eher dem störenden Parteimitglied oder dem Juden galt. Fazit war: Man war ihn los. Seine geliebte Partei hatte ihn doppelt verraten: erst seinen Bruder ermordet, dann ihn diffamiert.
    Weißt du, Adriana, mit den immergleichen Anklagen – Zionismus und Kosmopolitismus – waren die Juden doch die Ersten, die aus der Partei herausgefiltert wurden. Ich war weiß Gott nicht der Einzige! Wir hatten zwar in Titos

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