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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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Juden und, und, und …
    Ich begann mit Ruth, in ihrer Wohnung am Heidelberger Platz. Sie hatte eine Unmenge lockiger Haare, die sie hochsteckte, und kleine, wache Augen, die mich herausfordernd anblickten. Sie sprach sehr schnell, ich musste aufpassen, alles mitzubekommen, nichts zu verpassen. Es gab Käsekuchen von »Thoben«, die Tochter und die Enkeltöchter riefen immer wieder an. »Siete emozionati?«, fragte Oma Ruth, dabei war sie selbst aufgeregt. Sie sprach fließend Italienisch und Französisch, denn überall dort hatte sie gelebt und überlebt. Sie liebte dieses südliche Europa so sehr. Ruth erzählte von der Flucht nach Wien, wie sie mit ihrer Tochter, damals noch ein Baby, und ihrem Mann in einem Hotel haltmachten, das voller Nazis war. Dort fühlten sie sich sicher. Es war ein Risiko, natürlich, aber ein wohlkalkuliertes: Wer vermutete Juden in einem Faschistenhotel? Sie erzählte, wie sie ausgingen, um schnell etwas zu essen, in einem Lokal gegenüber. Als sie zurückkamen, war das Baby weg. Das Kind, das so friedlich auf dem Bettchen geschlafen hatte. Sie wollte sich aus dem Fenster stürzen, da hörte sie ein Jammern: Das Baby war aus dem Bett gefallen und daruntergerollt. Ich weiß, dass sie diese Geschichte oft erzählt hat. Mich rührte sie, Ruths flinke Hände krallten sich in meine, als sie davon erzählte. Dann ging sie rasch zum Spiegel, kämmte ihr dichtes Haar nach. »Ich will ja schick sein für die Nachwelt.« Ruth war in der Gegend um den Görlitzer Bahnhof geboren, Skalitzer Straße 46, da hatte ihr Vater eine Apotheke. Später waren ihre Eltern zu Wohlstand gekommen und in eine Villa nach Mariendorf gezogen. Gelegentlich sprach sie so schnodderig, dass ich sie kaum verstand. Dann klang sie wie eine Straßengöre à la Heinrich Zille. »Aber berlinern durften wir nie. Das fand meine Mutter unfein! Ich war in der Schweiz, in Frankreich und Italien. In Assi im Piemont haben mich die Italiener beschützt. In Paris hat man mich nicht ausgeliefert. Und in Davos habe ich meinen Bruder wiedergetroffen und meine Tuberkulose geheilt. Nun bin ich wieder hier. Ich hab eben Glück gehabt, was soll ich dazu sonst sagen?« Sie war gut gelaunt, sparte Details aus und alles Bedrückende. Ihre Tochter kam. »Hast wohl Angst gehabt, dass ich was Verkehrtes erzähle?!« Aberim Grunde erzählte sie für sie und ihre Enkelinnen, die draußen warteten. Sie waren gierig nach Details, als würden sie ihnen helfen, irgendetwas besser zu verstehen. Auch in ihrer Familie häuften sich die Geheimnisse, vor allem, wenn es unangenehm und traurig wurde. Ich fragte vorsichtig weiter. Sie weinte leise und der Verlust vieler Familienangehöriger kam zutage. Unter Tränen wiederholte sie immer wieder: »Aber ich, ich hab Glück gehabt!«
    Ich umarmte sie, sie blieb untröstlich.
    Wenige Tage später war ich bei ihrem Bruder Gerard. Er hatte dieselbe Mähne, nur in Weiß, den Sprachwitz, das Tempo. Ich kannte ihn aus der Gemeinde, eine Instanz in allen Haushaltsfragen. Er erzählte und streute Lügen ein, um mich zu testen. Er lachte, wenn es ihm gelungen war, mich aufs Glatteis zu führen. Er war Sozialist geworden auf seiner Odyssee durch Europa, damals, 1942. Und er war es immer noch. Seine Frau brachte uns Tee. Er zwickte sie in den Hintern, und sie lachte auf. Er war so fröhlich, dass ich mich fürchtete, hinter die Fassade zu schauen.
    Ich wurde herumgereicht unter den alten Herrschaften, weiterempfohlen sozusagen, und nach und nach wurde ich Spezialistin für die Berliner Juden.
    Günther, ehemaliger Leiter der Kultusabteilung der Gemeinde, war höflich und genau. Sein Blick war matt und von unendlichem Ernst. Als man ihn damals aus der S-Bahn herausholte, am Tag der Reichskristallnacht, fuhr er gerade an der brennenden Synagoge vorbei. Zwei Männer kamen, nahmen ihn fest. Alle Fahrgäste mussten denken: Aha, einer ohne Fahrschein!
    »Aber ich hatte einen Fahrschein, ich hatte ihn in der Hand. Am 9. November 1938. Aber keiner wollte ihn sehen.« Das war seine größte Sorge: dass man ihn für einen Schwarzfahrer hielt. Man brachte ihn in die Große Hamburger Straße, dann nach Auschwitz.
    »Ich war neunzehn. Ich habe gesagt, ich sei Ingenieur. Ich habe gelogen und überlebt. IG Farben, Auschwitz II , Monowitz. Und ich habe überlebt, weil ich nie etwas falsch gemacht habe, mir nie etwas habe zuschulden kommen lassen. Das müssen alle wissen, vor allem die Enkelkinder. Ich habe alles richtig gemacht. Und ich

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