Tochter der Nacht
entspricht. Das Leben mag vollkommen sicher und geordnet erscheinen, doch ohne die leiseste Warnung gerät man in eine Situation, in der das ganze Gebäude des Lebens, Körper, Geist und Seele, plötzlich und unvorbereitet, eine starke Erschütterung erfährt.
Es ist leicht, sittlichen Grundsätzen zu folgen, wenn alles in geordneten Bahnen verläuft, oder wenn man die Möglichkeit hat herauszufinden, was von einem erwartet wird.
Hätten wir Monostatos zum Beispiel gesagt, die Prüfung bestehe für ihn darin, zu beweisen, daß er in der Lage sei, seine Triebe zu bändigen, so zweifle ich nicht im geringsten daran, daß er sich Euch gegenüber genau so korrekt verhalten hätte wie Sarastro. Aber wir ließen ihn im Glauben, es gehe um etwas anderes, obwohl wir ihn natürlich ermahnten, jederzeit nur so zu handeln, wie es ihm sein Gewissen befehle. Er hatte die Möglichkeit zu wählen, und Ihr kennt seine Entscheidung.«
Pamina wußte, es würde lange dauern, ehe sie ohne heftigen Abscheu an Monostatos denken konnte.
Tamino griff nach ihrer Hand. Es wäre albern und verlogen, vor dem Priester so zu tun, als seien sie sich noch immer fremd, nachdem Pamina ihn als riesiger Vogel an ihrer Brust durch die Luft getragen hatte, und sie beide von den Delphin-Halblingen nackt durch das Meer an Land gebracht worden waren. Und die bestandene Prüfung der Erde bedeutete sicherlich nicht, daß er Pamina nicht begehren durfte…
»Ich verstehe die Prüfungen nicht, die hinter uns liegen«, bekannte Tamino, »aber vermutlich ist mir nicht erlaubt, um eine Erklärung zu bitten.«
»Doch, denn Ihr habt diese Prüfungen bestanden«, erwiderte sein Geleiter. (Tamino glaubte deutlich zu spüren, daß auch der Priester mit einer gewissen Erleichterung die nächste Prüfung hinauszögerte.) »In der Prüfung der Luft habt ihr beide unter dem Zeichen des Adlers eure verborgenen Fähigkeiten entdeckt. Pamina erkannte ihre Macht. Und Ihr, Tamino, habt in Euch die Bereitschaft entdeckt, Euch von jemandem helfen zu lassen, den Ihr immer für schwächer hieltet.
Wo Euch Stärke nicht weiterhalf, habt Ihr Euch damit abge-funden, daß Ihr nicht immer alles leiten oder immer befehlen könnt.«
»Und die Prüfung des Wassers?« fragte Pamina, »bei der Prüfung unserer geistigen Fähigkeiten konnte es doch schwer-lich von Bedeutung sein, zu zeigen, wie gut wir zu schwimmen vermögen. Ging es nur darum, unser Geschick oder unsere Fähigkeit auf die Probe zu stellen, in einer Notlage zu überleben?«
»Nicht ganz«, erwiderte der Priester, »die Absicht war, herauszufinden, ob ihr der Versuchung widerstehen konntet, die Halblinge zu euren Zwecken zu benutzen.«
»Dann müssen wir wohl versagt haben«, sagte Tamino,
»denn die Meer-Leute gaben offen zu, sie besäßen keine Mittel, sich gegen uns zu wehren. Deshalb sei es besser, sagten sie, uns freiwillig zu helfen, da wir schließlich ihre Hilfe erzwingen konnten.«
»Es ist gestattet zu verhandeln oder Abmachungen zu treffen«, erklärte der Priester, »aber selbst in dem Bewusstsein Eurer Macht habt Ihr, Tamino, auf ihre Würde Rücksicht genommen. Ihr habt verhandelt und ihnen nicht wie Sklaven befohlen oder sie gedemütigt. Ihr habt Euch als Meister erwiesen, als Ihr die Flöte aus der Hand gegeben habt, anstatt zu befehlen. Die Halblinge konnten sich von Eurer Bereitschaft überzeugen, sie um Hilfe zu bitten.«
Pamina ließ den Kopf sinken. »Und ich wollte Tamino überreden, die Flöte zu spielen, um ihre Bereitschaft zu erzwingen«, sagte sie beinahe unhörbar, »ich fürchtete mich so sehr…«
»Aber Ihr habt ihm nicht verwehrt, sich zu entscheiden, Pamina,« erwiderte der Priester, »Ihr seid die Tochter der Sternenkönigin, und es lag immer im Bereich des Möglichen, daß Ihr Tamino die Flöte aus der Hand reißen und den Halblingen den verbotenen Befehl selbst geben würdet.«
»Dann muß es doch einmal eine Zeit gegeben haben«, sagte Pamina traurig, »in der selbst meine Mutter dieser Versuchung widerstand…«
Aber der Priester blieb stumm und schüttelte nur traurig den Kopf. Pamina fragte sich, ob vielleicht auch er ihre Mutter gekannt und sogar geliebt hatte… Sie würde es nie erfahren.
»Für die Prüfung des Feuers im Land der Wandlungen«, er-klärte der Priester abschließend, »genügt es zu wissen, daß ihr jederzeit im Sinne der besten Seiten eures Wesens handeln müßt, wie ihr es bei den vorausgegangenen Prüfungen getan habt. Und jetzt darf ich nicht
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