Tochter der Nacht
länger zögern.«
Er klatschte in die Hände, und der Tempel verschwand vor ihren Augen.
Sie standen in einer endlosen Wüste und hielten sich immer noch bei den Händen. Ein leiser Wind fuhr raschelnd durch niedriges Gestrüpp. Hoch über ihnen stand die Mittagsson-ne und blendete sie mit ihrem grellen Licht. Am fernen Horizont schienen sich Ruinen zu erheben, alte Mauern und Säulen…
Langsam drehte sich Pamina um und entdeckte weit hinten die schattenhaften Umrisse einer Stadt – lag dort vielleicht der Palast ihrer Mutter? Sie spürte den heißen Sand sogar durch die Sandalen und wußte, hier war sie gewesen; es mußte mitten im Land der Wandlungen sein. Pamina hatte sich noch nie in dieses Gebiet gewagt. Ihre Mutter hatte es verboten; und solange sie bei ihr lebte, war ihr nie in den Sinn gekommen, jemand könnte es wagen, sich dem Willen der Sternenkönigin zu widersetzen. »Da sind wir nun«, sagte Pamina mit einem zaghaften Lächeln zu Tamino, »er kann sagen, was er will, ich glaube immer noch, es ist besser, als in ein richtiges Feuer geworfen zu werden.«
∗ ∗ ∗
Tamino freute sich, daß Pamina darüber spaßen konnte und war dankbar, daß die Prüfung des Feuers nicht wie bei Luft und Wasser mit einem Überlebenskampf begann.
Er war kein Feigling – zumindest hatte Tamino sich vor Beginn der Prüfungen nie dafür gehalten –, doch es fiel ihm leichter, nachzudenken, was er tun sollte, wenn er nicht gerade um sein Leben kämpfen mußte…
Unter der unbarmherzig brennenden Sonne wurde ihm jedoch schnell klar, daß sie nicht nur symbolisch, sondern im wahrsten Sinne des Wortes eine Feuerprobe zu bestehen hatten. Auf der Reise zu Sarastros Tempel hatte Tamino die heiße Wüstensonne einmal etwas zu lange nicht beachtet, und die schmerzhafte Folge war verbrannte Haut und zeit-weilige Blindheit gewesen.
»Auch ich bin froh darüber«, sagte er zu Pamina, »aber die Sonne ist mir Feuer genug«, riß einen Streifen von seinem Gewand ab und legte sich den Stoff lose wie eine Kapuze über den Kopf, um seine Augen vor der grellen Sonne und den Kopf ein wenig vor der Hitze zu schützen.
»Gar keine schlechte Idee. Ich hätte selbst daran denken sollen.« Schnell folgte Pamina seinem Beispiel und sah ihn dann unter ihrer selbstgefertigten Haube an. »Diesmal droht keine unmittelbare Gefahr. Wir sollten uns in Ruhe überlegen, worin die Prüfung bestehen mag. Ich wußte, es war nicht wichtig, ob wir schwimmen oder klettern konnten. Und ich hatte in beiden Fällen recht. Der Priester hat es uns erklärt, und wir wissen, daß du und ich auf diese Weise verborgene Eigenschaften in uns entdeckten…«
»Du…«, unterbrach sie Tamino, »wie der Priester sagte, ha-be ich gelernt, mich deiner Führung anzuvertrauen, wenn es notwendig ist.« Es gelang ihm, schwach zu lächeln. »Man hat mich gelehrt, ein Prinz müsse für alle seine Untertanen sorgen und alle Entscheidungen selbst treffen. Vielleicht wurde damit nur mein Stolz auf die Probe gestellt.«
∗ ∗ ∗
Pamina sagte leise: »Davor fürchte ich mich am meisten, Tamino…. daß mein Stolz auf die Probe gestellt wird. Du weißt, die Sternenkönigin… meine Mutter… hat diese Prü-
fungen einmal alle bestanden… als erste und bisher einzige Frau. Und was ist aus ihr geworden? Ich bin ihre Tochter. Ich strebe nicht nach Macht und will auch nicht herrschen, wenn ich dadurch wie sie werden muß… Ich bin ihr schon zu ähnlich, Tamino. Bei der Prüfung des Wassers hätte ich die Flöte benutzt oder dich gezwungen, sie zu spielen, um den Delphin-Halblingen zu befehlen. Ich glaube, diese Prüfung ist zu schwer für mich, Tamino.«
»Die Priester hätten dich bestimmt nicht zugelassen, wenn es so wäre, Pamina. Es ist ihre Aufgabe, solche Dinge zu wissen.«
»Aber sie begehen auch Fehler. Mit meiner Mutter muß ihnen ein Fehler unterlaufen sein. Auf sie warteten das König-reich der Nacht und der Thron der Sternenkönigin… wahrscheinlich hat man sie deshalb zu den Prüfungen zugelassen.
Und was ist geschehen?« Pamina senkte die Augen, und Tamino glaubte, Tränen in ihrem Gesicht zu sehen. »Ich habe an sie geglaubt. Es muß eine Zeit gegeben haben, in der auch mein Vater an sie glaubte. Muß ich so werden wie meine Mutter, Tamino? Muß ich wirklich so werden?«
»Ich kann es mir nicht vorstellen.«
Tamino wünschte sich von ganzem Herzen, sehnlicher, als er sich je etwas gewünscht hatte, er könne sie in die Arme nehmen und trösten.
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