Tochter des Glueck
Leute mich besser sehen können. Sie werfen mir noch mehr Beleidigungen und Anschuldigungen an den Kopf. Gleich wird es Zeit, Samantha zu stillen, und sie fängt an zu weinen. Sie ist ein winzig kleines Ding, aber das Geschrei, das sie ausstößt, ist gleichzeitig wütend und verzweifelt. Meine Brüste reagieren sofort, die Milch schießt ein. Wenn ich sie nicht bald stille, tropft die Milch heraus. Eigentlich sollte meine Lage ein wenig Mitleid erregen, doch davon ist nichts zu spüren.
»Du versteckst dich hinter banalen Schwächen und verbirgst dadurch schwerwiegende Fehler«, sagt Brigadeführer Lai nach einer weiteren halben Stunde der Kritik. »Hören wir mehr von den Menschen, die dich kennen.«
Taos Mutter erhebt sich. Unser Verhältnis war bestenfalls wechselhaft, und Tao ist ihr Sohn, aber sie könnte Schlimmeres sagen.
»Du wolltest eine Hochzeitszeremonie und eine Feier, doch das ist im Neuen China nicht nötig. Selbst da wolltest du angeben!«
Einer von Taos Brüdern tritt vor. »Manchmal bekommt meine Schwägerin einen Brief. Sie sagt, er ist von ihrer Mutter oder Tante, aber man sieht, dass er verschlüsselt geschrieben ist.« Er spricht vom Alphabet. »Wir müssen uns darauf verlassen, dass es stimmt, was sie uns über den Inhalt erzählt. Sie kommt von unserem ultrarechten imperialistischen Feind. Woher sollen wir wissen, dass sie keine Spionin ist?«
»Was soll es denn hier zu spionieren geben?«, frage ich empört. Dieser Junge hat so oft von mir profitiert – von den Päckchen mit Süßigkeiten, die meine Mutter und meine Tante geschickt haben, bis hin zu dem Essen, das mir aus der Schüssel genommen und in seine gefüllt wurde. Trotzdem muss ich vorsichtig sein. Um eine Scheidung zu bitten, ist eine Sache, aber als Spionin bezeichnet zu werden, das ist etwas ganz anderes.
»Wir schlafen gemeinsam im Hauptraum«, fährt Taos Bruder fort. »Sie tut nicht genug, um das Baby ruhigzustellen. Ihr hört es ja jetzt.« Samantha untermauert seine Worte mit ihrem Geschrei. »Wir können alle nicht mehr schlafen. Mein armer Bruder ist so müde, dass er keine Kraft mehr hat, um zu malen.«
Ich würde gerne sagen, dass Tao müde ist, weil er Hunger hat, zu schwer auf den Feldern arbeitet und mit zu vielen jungen Frauen herummacht, aber ich lasse das lieber bleiben, denn ich bin froh, dass die Vorwürfe nun weniger gravierend sind, als mir Spionage vorzuwerfen.
Tao setzt sich und stupst Jie Jie mit dem Ellbogen an. Er möchte, dass sie aufsteht und sich auch negativ über mich äußerst. Aber sie schüttelt den Kopf. Es wäre schön, wenn sie den Mut hätte, für mich zu sprechen, doch das tut sie nicht. Dennoch nehme ich ihr Schweigen als kleinen Sieg.
Noch ein paar andere kritisieren mich. Ich hätte bei der Ernte nicht hart genug gearbeitet. Ich hätte den Maiserntewettbewerb nicht für die Ehre der Mannschaft und des Landes gewonnen, sondern um damit prahlen zu können, wie wichtig ich bin. Ich hätte mich von meiner Mutter vor aller Augen umarmen lassen.
Verbittert und wütend stehe ich da. Das ist eine großartige Methode, die Leute von ihrem Hunger und ihrer Erschöpfung abzulenken – man lässt sie den ganzen Tag arbeiten, ohne zu essen, und schickt sie dann abends zu einer öffentlichen Kritik. Da tritt plötzlich jemand gegen das Tischbein. Der Tisch kippt um, und das Baby und ich fallen. Ich drehe den Körper so, dass ich auf dem Rücken lande und Samantha schütze. Als ich aufblicke, sehe ich Kumei. Ich strecke ihr die Hand entgegen, denn ich denke, sie ist gekommen, um mir zu helfen, so wie ich Yong geholfen habe. Stattdessen zeigt Kumei anklagend mit dem Finger auf mich.
»Du hast in der Küche des Hofhauses gebadet – nackt«, sagt sie. Es bricht mir das Herz, dass Kumei das Gefühl hat, gegen mich sprechen zu müssen. Aber ich verstehe das. Sie muss sich, ihren Sohn und Yong schützen. Trotzdem ist diese Information verblüffend – schockierend. Wieder ändert sich die Stimmung, wird hässlich. Ich denke an Yongs öffentliche Kritik. Glücklicherweise hat noch niemand zur Sprache gebracht, wie ich ihr an diesem Tag beigesprungen bin. Zumindest noch nicht. Aber alle haben Hunger, alle sind müde, und es könnte zu Gewaltausbrüchen kommen.
Ich stehe vom Boden auf. Samantha brüllt sich die Seele aus dem Leib, wie meine Tante May sagen würde. Ich sehe Sung-ling unverwandt an. Bitte hilf mir. Sung-ling steht auf und hebt die Hand, um für Ruhe zu sorgen. Im Publikum wird es still,
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