Tochter des Glueck
Fische, in etwas Sojasauce gedämpft. Unser Essen muss zwischen sechs Menschen, die seit über zwanzig Jahren zusammenleben, aber keine Familie sind, und mir geteilt werden. Die größten Auseinandersetzungen drehen sich um das Hauptnahrungsmittel – Reis –, und dessen Knappheit ist etwas völlig Neues in einem Land, das die Herzen der Menschen mit dem Versprechen einer eisernen Reisschüssel gewonnen hat, also der Garantie auf lebenslang ausreichende Ernährung. Ansonsten liefert uns noch Mehl aus Süßkartoffeln, Sorghum und Mais zusätzliche Kohlehydrate. Fleisch und Eier sind unmöglich zu bekommen. Es hieß, die Frau von Premierminister Chou En-lai würde ihren Gästen Tee aus abgefallenen Blättern servieren, um während dieser »Schlechtwetterjahre« Solidarität mit dem Volk zu zeigen. Andere Führer wollen Gemüsegärten anlegen, sobald es wärmer wird. Sogar der Große Steuermann sagt, er wird seine Blumenbeete in einen Gemüsegarten verwandeln – zumindest wurde das so berichtet. Diese Nachrichten und unser ständiger Hunger machen uns fahrig und reizbar. Was kommt als Nächstes?
»Du gibst weniger als deinen Anteil in den Kochtopf«, beschwert sich eine der ehemaligen Tänzerinnen beim Schuster. Vor zwei Wochen hat sie ihn dabei erwischt, wie er mitten in der Nacht heimlich Reis genommen hat, und seither wird sie ihr Misstrauen gegen ihn nicht los.
Der Schuster tut die Anschuldigung achselzuckend ab. »Ihr verteilt die Portionen nicht gerecht.«
Koch, der treueste Rote unter uns, kann jeden von uns dem Blockkomitee melden. Er mag das Gezänk nicht. »Hört auf zu streiten. Ich bin zu alt, um mir diesen ganzen Lärm anzuhören«, befiehlt er und versucht, die gleiche Autorität aufzubringen wie früher, als ich noch ein kleines Mädchen war. »Ich habe euch doch schon gesagt, dass ihr die Waage benutzen sollt, damit auch jeder die gleiche Menge bekommt.« Das ist eine gute Idee, aber Koch hat leider schlechte Augen, sodass es nur noch mehr Kabbeleien gibt.
Ansonsten geht das Leben weiter. Ich sammle weiterhin Papier, Dun lehrt an der Universität, die Tänzerinnen gehen in ihre Fabrik, der Schuster arbeitet an seinem Stand, die Witwe holt ihre Witwenrente ab und strickt für ihre Enkelkinder, und Koch verschläft den Großteil des Tages. Jeden Morgen und jeden Abend – aus Gewohnheit und Wunschdenken – gehe ich noch am Bund entlang und überlege mir, wie ich China verlassen könnte. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass eine Flucht über den Whangpoo und aufs Meer hinaus unmöglich wäre. Über tausend Schiffe legen jeden Tag in Shanghai an und ab, und überall sind Kontrollboote. Das Kontrollboot Nummer fünf hat letztes Jahr einen »Vorbildspreis« gewonnen, weil es die meisten blinden Passagiere erwischt hat, die das Festland verlassen wollten. Laut der Lokalzeitung hat die Besatzung geschworen, diese Zahlen in diesem Jahr zu übertreffen. Der Fluss und das Meer sind einfach zu riskant.
Allerdings verlassen Menschen die Stadt, wenn auch nicht freiwillig. Shanghai ist nicht mehr so voll wie bei meiner Ankunft. Der Polizei ist es gelungen, Landbewohner von der Stadt fernzuhalten. Wer es vor zwei Jahren, als die neuen Fabriken aufmachten, in die Stadt geschafft hat, wurde nach Hause geschickt, und die Arbeit wurde der lokalen Bevölkerung überlassen. Unruhestifter wurden in Arbeitslager gesteckt. Gleichzeitig hat die Volksregierung, die unbedingt den Handel mit Hongkong ausweiten möchte, ein paar Ausreisegenehmigungen für Leute ausgestellt, die dort Verwandte haben. Wer das Glück hatte, so eine Genehmigung zu bekommen, durfte umgerechnet fünf Dollar auf die Reise mitnehmen, gerade genug Geld, um die Familienangehörigen zu besuchen und dann wieder nach Hause zu fahren. Wenn Joy bei mir wäre, würde ich jeden Tag auf die Polizeiwache gehen und Inspektor Wu um Genehmigungen bitten. May würde in Hongkong auf uns warten, mit genügend Geld, um uns alle wieder nach Los Angeles zu bringen. Wie sagt man noch? Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Um fünf Uhr ruft Koch alle zum Abendessen. Als Zeichen unserer Solidarität mit den Massen in den Kommunen – eigentlich aber, um sicherzugehen, dass niemand mehr zu essen bekommt, als er oder sie verdient – essen wir gemeinsam im Esszimmer. Wir alle haben abgenommen. Wir alle sind bleich. Wir haben einfach nicht genug zu essen.
Als die Mahlzeit zehn Minuten später zu Ende ist, verschwinden die anderen auf ihren Zimmern, zu schwach für sonstige
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