Tochter des Glücks - Roman
soll mir keine Sorgen machen. »Das ist immer so zwischen dem Gelb und dem Grün. Auf den Feldern wächst nichts mehr, die Ernte geht zur Neige, und für die Saat, die mit dem Frühlingsfest beginnt, ist es noch zu früh.«
»Aber ich dachte, wir hätten eine Rekordernte«, sage ich. »Wie kann es sein, dass der Kommune das Essen ausgeht?«
»Zerbrich dir über solche Dinge nicht den Kopf«, tadelt mich mein Mann und versucht, wie ein Erwachsener zu klingen. Doch von anderen erfahre ich, dass Brigadeführer Lai der Regierung eine gewaltige Lieferung Getreide aus unserer Rekordernte versprochen hat. Er löste sein Versprechen ein, gleichzeitig sollten wir essen, so viel wir wollten, und nun ist der Getreidespeicher in der Führungshalle auf einem gefährlich niedrigen Stand.
Im Lauf des Monats wird es kälter und feuchter. Das Haus von Taos Familie ist nach Norden ausgerichtet, deshalb wärmt uns die Wintersonne kaum. Frost überzieht den Boden. Stehendes Wasser gefriert über Nacht. Manchmal fällt Schnee, aber er schmilzt schnell wieder. Durch Ritzen um die Tür und im Dach bläst es eiskalt herein. Meiner Meinung nach leistet das Fenster – über dessen Öffnung wir wieder das Reispapier geklebt haben – keinen Beitrag, um kalte Luft draußen oder warme Luft drinnen zu halten. Den ganzen Tag über sehe ich meinen Atem im Haus. Taos Familie hatte genug Zeit, sich darauf einzustellen. Sie ziehen mehrere Schichten wattierter Kleidung übereinander an. Das tue ich auch, aber warm wird mir nie.
Jeden Sonntag schreibe ich meiner Mutter, denn das ist der einzige Tag, an dem ich nicht für die Kommune arbeiten muss. Ich erzähle ihr von Yong, Kumei und Ta-ming. Ich erzähle ihr vom Wetter. Ich erzähle ihr, dass ich lerne, eine Ehefrau zu sein. Montags gehe ich dann zum Teich und warte auf den Postboten, der mit dem Fahrrad alle Dörfer abfährt, die zur Kommune gehören. Ich gebe ihm meinen Brief, den er zur Führungshalle bringt, wo die Post sortiert, gelesen und weitergeleitet wird. Heute gibt er mir einen Brief, den ich der gesamten Familie vorlese:
»Z. G. und ich waren bei Madame Sun Yat-sen zum Tee. Sie hat einen wunderschönen Garten mit dreißig Kampferbäumen. Wusstest Du, dass sie all ihre Reden auf Englisch schreibt? Ich wette, wenn Du hier wärst, könnte Dir Dein Vater einen Job bei ihr besorgen, denn Du hast genau wie sie in Amerika das College besucht. Auch Vertreter aus Burma, Nepal, Pakistan und Indien waren eingeladen. Du hättest die Frauen in ihren Saris sehen sollen. Sie waren so elegant im Vergleich zu den Russinnen. Dein Vater hat mich überredet, einen cheongsam von früher anzuziehen, aus roter Seide mit gelben Paspeln. Alle sagten, Dein Vater und ich seien von allen Gäste dort die bestaussehenden. Ich glaube, sie hatten recht, wenn ich das sagen darf.«
Eine Woche später schickt sie Weihnachtsgeschenke – einen roten Schal, eine Dose Kekse und Stoff, den sie für ihre Baumwollbezugsscheine bekommen hat. Ich schenke die Kekse Taos Geschwistern und die Baumwolle meiner Schwiegermutter, damit sie den Kindern Kleider daraus nähen kann. Den Schal behalte ich für mich. Ich erkläre ihnen nicht, was Weihnachten ist.
Zwei Wochen später berichtet meine Mutter von Neuigkeiten, die wir auch über den Lautsprecher gehört haben. Funktionäre in Peking haben den Bau von zehn Projekten in der Hauptstadt angekündigt, um im nächsten Jahr, am 1. Oktober 1959, den zehnten Geburtstag der Volksrepublik China zu feiern. »Das größte wird die Große Halle des Volkes genannt werden«, lese ich Tao und den anderen vor. »Sie wird größer und prachtvoller sein als alles, was bisher in China gebaut wurde, bis auf die Große Mauer vielleicht. Und was am wichtigsten ist, die Große Halle des Volkes wird nur von freiwilligen Helfern errichtet. Dein Vater hat mir versprochen, mich zu der Feier mitzunehmen. Da gibt es etwas zu sehen!« Ich glaube, mit ihrer falschen Begeisterung will sie eigentlich sagen: Freiwillige Helfer? Ich bin froh, dass ich nicht in Peking lebe und an diesem oder einem der anderen neun pompösen Schreine für Maos Ego mitarbeiten muss. Was nicht dasteht, können die Zensoren nicht schwärzen.
Doch für meinen Mann und meine Schwiegereltern hört sich das alles fantastisch an, und sie rufen immer wieder erstaunt aus: Madame Sun Yat-sen! Die Große Halle des Volkes! Von Mays Briefen waren sie weniger beeindruckt, denn sie haben keine Ahnung von Fernsehern, Autos oder Filmstars.
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