Tochter des Glücks - Roman
Trotzdem sehen sie sich die Fotos an, die May schickt, und stellen Fragen wie: »Warum zieht sie so etwas an? Ist ihr nicht kalt mit den nackten Schultern?« Manchmal betrachten sie wortlos die Bilder, auf denen May geschminkt ist und toupierte Haare hat. Sie haben vielleicht noch nie eine Prostituierte gesehen, aber eine Frau mit lockerem Lebenswandel erkennen sie sofort.
Meine Mutter und meine Tante stellen mir immer dieselben Fragen: Bist du glücklich? Malst du? Ich bin nicht glücklich, doch das möchte ich ihnen nicht sagen. Ich male auch nicht, aber Tao tut es. Nachdem er Z. G.s Erfolg mit dem Neujahrsplakat mitbekommen hat, möchte Tao nun auch beim nationalen Wettbewerb mitmachen. »Wenn ich gewinne, könnten wir nach Shanghai oder sogar nach Peking ziehen«, sagt er oft. Er arbeitet am Tisch, eingewickelt in wattierte Kleidungsstücke, mit einer Decke über den Schultern und einer zweiten über den Beinen. Er hat sich ein traditionelles Thema vorgenommen – Türgötter – und sie in zwei Bauern umgewandelt, die eine üppige Ernte einbringen. Mich verwendet er nicht als Motiv oder als Anregung, wie es Z. G. getan hat, was mich sehr verletzt. Immer wenn ich etwas darüber sage, meint Tao nur: »Hör auf, dich zu beschweren, und male deine eigenen Bilder. Niemand hält dich davon ab.« Er hat leicht reden. Ich wünschte, ich könnte ebenso locker mit dem Pinsel umgehen wie mein Vater und mein Ehemann. Mir geistert da etwas durch den Kopf – ich weiß es –, aber ich konnte es bisher nicht greifen, und niemand ermutigt mich dazu.
Nachts liegen Tao und ich auf Matten im Hauptraum. Die Kleider, die wir am nächsten Tag tragen, liegen unter unseren Matten, damit sie beim Anziehen warm sind. Die älteren Kinder rollen sich um uns herum zusammen. Tao nagt zärtlich an meinem Hals. Er schiebt eine Hand unter mein Nachthemd. Wenn wir ganz leise sind, kann die Nacht ihre eigene Wärme entwickeln.
»Wenn du das nächste Mal an deine Mutter und deinen Vater schreibst«, sagt Tao, während er mir die Finger zwischen die Beine schiebt, »dann frag sie doch, ob sie uns Genehmigungen besorgen können, damit wir sie in Shanghai besuchen dürfen.«
Ab Februar wache ich hungrig auf und gehe hungrig zu Bett. Ich rede mir ein, dass ich nicht so viel Hunger habe, wie ich denke, dass ich eine schlechte westliche Einstellung habe und dass alles, was ich sehe und fühle, nicht echt ist. Aber manche Leute sagen, so schlimm war es noch nie zwischen dem Gelb und dem Grün. Einige möchten die Kommune auflösen, behaupten, es sei ihnen besser gegangen, als sie noch selbst für ihr Land, das Getreide und die Familie verantwortlich waren. Ich halte den Mund, aber allmählich denke ich, dass die Kantine nicht mehr dazu da ist, uns zu ermutigen, kostenlos zu essen; sie ist da, um die uns zugeteilten Portionen einzuschränken.
All das führt zu neuen Inspektionen.
»Versteckt ihr irgendwo Getreide?«, fragt Brigadeführer Lai, während Parteisekretär Feng Jin und Sung-ling unsere Schränke durchsuchen.
Taos Mutter ist klein, aber couragiert. Sie sieht ihm ins Gesicht. »Wo sollten wir denn etwas verstecken?«
Darauf fällt ihm erst mal nichts mehr ein.
»Habt ihr euer gesamtes Kochgeschirr abgegeben?«, fragt Sung-ling – von Frau zu Frau. »Ihr solltet überhaupt kein Kochgeschirr mehr haben. Mittlerweile sollte alles in der Kantine abgegeben oder im Hochofen geschmolzen worden sein.«
»Willst du damit fragen, ob wir gekocht haben?«, entgegnet Fu-shee spitz. »Wir könnten gar nicht kochen, selbst wenn wir wollten. Wir haben nur noch unsere Teekanne.«
Ich hielt meine Mutter und meine Tante für gute Lügnerinnen, aber meine Schwiegermutter ist wahrscheinlich die allerbeste, und sie versteht es, für ihre Familie zu sorgen. Sie war mit den kleineren Kindern draußen auf den Feldern und hat Reis, Rüben und Erdnüsse gesammelt, die während der übereilten Ernte liegen geblieben waren. Sie hat auch noch genügend Gerätschaften aufgehoben – allesamt in einem Loch im Boden versteckt –, um Teigbällchen aus Maismehl zu machen, die wir mit getrockneten Chilistückchen essen.
»Es roch nach Essen, als ich hereingekommen bin«, sagt Sung-ling vorwurfsvoll.
»Das muss das heiße Wasser sein, das wir zum Trinken kochen, weil wir keine Teeblätter mehr haben.«
An diesem Abend schreibe ich meiner Mutter.
Es heißt, Schwiegermütter seien schreckliche Wesen, die nur auf der Welt sind, um ihre Schwiegertöchter zu quälen,
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