Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tochter des Glücks - Roman

Tochter des Glücks - Roman

Titel: Tochter des Glücks - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
Vom Netzwerk:
habe.
    »May.« Er zieht die eine Silbe ganz lang. Dann wird ihm bewusst, dass ich ihn ansehe, und er setzt sich gerade auf. »Und, wo sind sie? Warum sind sie nicht mit dir gekommen? Warum sollten sie dich alleine herschicken?«
    Auch er spricht von ihnen im Plural, und ich werde ihn auf keinen Fall korrigieren.
    »Sie sind in Los Angeles.« Damit es besser klingt, füge ich » Haolaiwu – Hollywood« hinzu.
    Ihm scheint nicht aufzufallen, dass ich seine andere Frage gar nicht beantwortet habe, denn er sagt: »May wollte immer nach Haolaiwu .«
    »Hast du sie in den Filmen gesehen? Sie spielt in vielen Filmen mit. Ich auch. Wir haben zusammen gearbeitet. Erst waren wir Komparsen, und dann … Hast du uns gesehen?«
    Er sieht mich an wie ein Wesen von einem anderen Stern.
    »Joy, so heißt du, oder? Das hier« – er macht eine ausholende Armbewegung – »ist China. Wir sehen hier keine Hollywood-Filme.« Dann fragt er: »Wo kommst du her? Wie bist du hergekommen?«
    »Entschuldigung, ich dachte, ich hätte dir das gesagt. Ich komme aus Los Angeles. Ich bin gekommen, um dich kennenzulernen und den revolutionären Kampf zu unterstützen!«
    Er lässt den Kopf zurückfallen, als wollte er die Decke betrachten. Als er wieder mich ansieht, fragt er: »Was hast du getan? Bist du von Sinnen?«
    »Was meinst du damit? Ich musste dich kennenlernen«, sage ich. »Willst du mich nicht?«
    »Bis vor ein paar Minuten wusste ich noch nicht einmal, dass es dich gibt.«
    Er wirft einen Blick über die Schulter in die Diele. Beim Anblick meines Koffers runzelt er die Stirn. »Was hast du vor? Dein Wu-Dialekt klingt nicht ganz richtig. Er ist einigermaßen passabel, aber die meisten Leute werden gleich merken, dass du nicht von hier bist. Selbst wenn du den Shanghaier Dialekt perfekt beherrschen würdest, mit deiner Frisur und deiner Kleidung siehst du immer noch so aus, als gehörtest du nicht hierher.«
    Warum muss er das alles so negativ klingen lassen?
    »Deine Mutter und deine Tante können unmöglich damit einverstanden gewesen sein, dass du herkommst«, fügt er hinzu. Er will mehr Informationen aus mir herauslocken, aber dazu bin ich immer noch nicht bereit.
    »Eure Regierung hat Leute wie mich aufgerufen herzukommen.« Ich versuche die Begeisterung durchklingen zu lassen, die ich seit Monaten verspüre. »Ich möchte helfen, die Neue Gesellschaft aufzubauen.« Aber es ist, als hätte man den Deckel von einem Reistopf genommen. Der ganze Dampf ist zu schnell entwichen. Warum ist er nicht glücklicher, mich zu sehen? Warum hat er mich nicht umarmt oder geküsst? »Und ich bin da nicht die Einzige.«
    »Du bist die Einzige, die … die …« Er schluckt. Ich warte darauf, dass er die Worte ausspricht, die ich hören muss. »Die meine Tochter ist.« Er verstummt und knetet sich das Kinn. Hin und wieder schaut er mich an, überlegt, denkt nach. Offenbar sucht er nach einer Lösung für ein schwieriges Problem, aber wo liegt das Problem? Er hat mich schon als seine Tochter anerkannt. Schließlich fragt er: »Bist du Künstlerin? Kannst du malen?«
    Eine seltsame Frage. Als Künstlerin würde mich wohl niemand bezeichnen. Deshalb lüge ich. »Ja! Das wurde immer behauptet.«
    »Erzähl mir von den vier Arten der Kunst.«
    Soll das eine Prüfung sein? Ich beiße mir auf die Unterlippe, um meine Enttäuschung zu verbergen, und versuche mich zu erinnern, was ich in Chinatown gesehen habe. Zum chinesischen Neujahr gab es immer Kalender. Sogar Pearls Café hat einen Kalender machen lassen, den wir unseren treuesten Kunden geschenkt haben.
    »Es gibt Neujahrskalender«, sage ich zögernd.
    »Stimmt. Das ist eine von vier anerkannten Kunstformen. Sie sind für Bauern bestimmt – wie Volkskunst – und deshalb gut für die breiten Massen. Politische Porträts und Propagandaplakate würden ebenfalls in diese Kategorie fallen.«
    Ich erinnere mich an etwas, das ich an der Universität von Chicago gelernt habe, und sage es auf: »Mao hat gesagt, die Kunst soll Arbeitern, Bauern und Soldaten dienen. Sie soll eng mit der revolutionären Praxis verbunden sein.«
    »Du bist mit den vier Arten der Kunst noch nicht fertig. Was ist mit dem sozialistischen Realismus?«
    Daran erinnere ich mich genau, vom College her. »Er gibt die echte Welt beinahe wissenschaftlich genau wieder, wie ein Spiegel: die Volksmassen, die einen Damm bauen, junge Frauen, die in einer Fabrik Stoff weben, Traktoren und Panzer, die Seite an Seite über eine Landstraße

Weitere Kostenlose Bücher