Tochter des Glücks - Roman
war, spielte ich mit meiner Tante in vielen Filmen als Komparsin mit. Einmal hatte ich eine Rolle in einem Film über chinesische Waisenkinder, die während des Krieges mit einem Schiff aus China evakuiert wurden, aber hier ist es völlig anders als am Set. Alles ist rostig. Die Treppen sind schmal und steil. Die Gänge sind schwach beleuchtet. Wir liegen noch im Hafen, aber ich spüre das Wogen des Wassers unter den Füßen, was darauf schließen lässt, dass dieses Schiff nicht sonderlich seetüchtig ist. Man sagt mir, ich bekomme eine Einzelkabine, aber diesen klaustrophobisch engen Verschlag, in den ich geführt werde, könnte man sowieso nicht mit jemand anderem teilen. Draußen ist es heiß, hier drinnen womöglich noch heißer.
Später werde ich dem Kapitän vorgestellt. Seine Zähne haben Tabakflecken, seine Uniform ist mit Speiseresten und Öl verschmiert. Er sieht genau hin, als ich meine Geldbörse aufmache und meine Fahrkarte bezahle. Das Ganze ist ziemlich unheimlich.
Auf dem Rückweg zu meiner Kabine rufe ich mir in Erinnerung, dass ich das alles wollte. Weglaufen. Abenteuer. Meinen Vater suchen. Ein freudiges Wiedersehen. Auch wenn ich gerade erst herausgefunden habe, dass Z. G. Li mein Vater ist, hatte ich schon zuvor von ihm gehört. Er hat meine Mom und meine Tante immer gemalt, damals in Shanghai, als sie ihm Modell saßen. Die Plakate habe ich nie gesehen, aber einige seiner Illustrationen für China Reconstructs , eine Propagandazeitschrift, die mein Großvater im Tabakladen unter der Theke kaufte. Es war schon seltsam, die Gesichter meiner Mutter und meiner Tante auf dem Titelblatt einer Zeitschrift aus Rot china zu sehen. Z. G. Li hatte sie aus dem Gedächtnis gemalt, und zwar sehr oft. Da hatte er seinen Namen schon in Li Zhi-ge geändert, wahrscheinlich gemäß den politischen Veränderungen in China, wie meine Mom meinte. Meine Tante hängte sich die Titelblätter mit seinen Illustrationen gerne an die Wand über ihrem Bett, deshalb glaube ich, ein bisschen über ihn als Maler zu wissen. Bestimmt wird Z. G. – oder wie auch immer ich ihn nennen soll – sehr überrascht sein und sich freuen, mich zu sehen. Diese Gedanken lindern vorübergehend meine Sorgen wegen der Sicherheit des Schiffs und wegen des merkwürdigen Kapitäns.
Sobald wir aus dem Hafen von Hongkong ausgelaufen sind, gehe ich in die Kombüse zum Essen. Wie sich herausstellt, sind hauptsächlich heimkehrende Überseechinesen auf dem Schiff. Jeden Tag verlässt ein anderes Boot Hongkong, erzählt man mir, und bringt Leute wie mich nach China. Zwanzig Passagiere – allesamt männliche Chinesen – aus Singapur, Australien, Frankreich und den Vereinigten Staaten wurden von anderen Flügen und Schiffen direkt zu diesem Boot gebracht. (Was glaubt man in Hongkong wohl, was passieren würde, wenn einer von uns über Nacht oder eine ganze Woche bliebe?) Während der Mahlzeit wird mir auf einmal komisch. Bevor das Dessert serviert wird, muss ich den Tisch verlassen, weil mir schlecht ist. Ich schaffe es kaum in meine Kabine. Der Geruch nach Öl und der Latrine, die Hitze, die emotionale und körperliche Anstrengung der letzten Tage setzen mir stark zu. Die nächsten drei Tage verbringe ich damit, Brühe und Tee möglichst bei mir zu behalten, zu schlafen, in der Hoffnung auf eine kühle Brise auf dem Deck zu sitzen und mich mit den anderen Passagieren zu unterhalten, die mir alle möglichen nutzlosen Ratschläge gegen die Seekrankheit geben.
Ich liege in meiner Koje, als in der vierten Nacht das Rollen des Schiffs endlich nachlässt. Wahrscheinlich befinden wir uns an der Mündung des Yangtze. Angeblich dauert es noch ein paar Stunden, bis wir in den Whangpoo einfahren und Shanghai erreichen. Kurz vor Sonnenaufgang stehe ich auf und ziehe mein Lieblingskleid an – ein weiß gefüttertes, hellblau getupftes Musselinkleid. Ich statte dem Kapitän einen Besuch ab, reiche ihm einen Brief, den er abschicken soll, wenn er nach Hongkong zurückkehrt, und frage ihn, ob er mir ein paar von meinen Dollars in chinesisches Geld wechseln kann. Ich gebe ihm fünf Zwanzigdollarscheine. Vierzig Dollar steckt er ein, dann gibt er mir chinesische yuan im Gegenwert von sechzig Dollar. Ich bin zu verblüfft, um Einwände zu erheben, aber in Anbetracht seines Verhaltens wird mir bewusst, dass ich keine Ahnung habe, was mich erwartet, wenn ich an Land gehe. Werde ich behandelt wie in Hongkong? Werden die Leute, denen ich begegne, einfach mein Geld
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