Tochter des Glücks - Roman
ich anklopfen kann. Aber das geht auch nicht. Z. G.s Dienstmädchen kennen mich. Ich möchte nicht, dass Joy durch sie von mir erfährt. Doch das ist nicht der einzige Grund. Ich weiß plötzlich nicht, was ich zu ihr sagen soll.
Wir erreichen die Huaihai-Straße. Joy biegt rechts ab und geht auf den Whangpoo zu. Ich weiß natürlich, was ich am liebsten zu ihr sagen würde – du kommst jetzt sofort mit mir nach Hause –, aber mir ist auch klar, dass das völlig verkehrt wäre. Ich war neunzehn Jahre lang Mutter und weiß ein paar Dinge über das Muttersein und meine Tochter. Ich bin enttäuscht von ihr, weil sie so dumm war, derart überstürzt hierherzukommen, aber als sie an mir vorbeilief, sah sie weder traurig noch entmutigt aus. Im Gegenteil. Welche Taktik wenden wir als Mütter also bei unseren Kindern an, wenn wir wissen, dass sie gleich einen furchtbaren Fehler begehen werden – oder ihn schon begangen haben? Wir nehmen die Schuld auf uns. In meinem Fall kann ich mir zu Recht vorwerfen lassen, dass ich sie all die Jahre angelogen habe. Ich werde ihr sagen, wie sehr ich es bereue, sie enttäuscht zu haben. Und dann, und dann … Bitte komm nach Hause! Aber auch diese Taktik wird nicht funktionieren.
Ich bleibe stehen und sehe zu, wie meine Tochter in der Menge verschwindet, dann gehe ich zu einer Bushaltestelle. Zu Hause angekommen, nehme ich ein Bad, stecke mir die Haare im Nacken zu einem Knoten zusammen, schminke mich und gehe zum Wandschrank. Ich betrachte meine Kleider, allesamt Erinnerungen an die Vergangenheit. Ich entdecke eine Fuchsstola. Ich sehe meinen pelzgefütterten schwarzen Brokatmantel. Es ist der gleiche, den Joy gerade trug. Damals wollte ich ihn so gerne haben und sollte ihn auf Babas Wunsch May geben. Ich ziehe ein Kleid heraus, das Madame Garnett für mich geschneidert hat, aus dunkelgrünem Wollkrepp und asymmetrisch geschnitten. An den Hüften sind zur Zierde Jettknöpfe angenäht. Vor zwanzig Jahren fand Mama das Kleid zu elegant für mich; jetzt ist es wohl genau richtig – bescheiden, ein bisschen altmodisch, und die Farbe betont meine schwarzen Haare. Z. G. würde mich vielleicht gerne in dem Brokatmantel sehen, aber so weit kann ich nicht gehen. Ich rede mir ein, dass es mir egal ist, wie ich nach zwanzig Jahren aussehe, doch das stimmt natürlich nicht. Ich sage mir, keine Frau sollte einem Mann gestatten, die Narben auf ihrer Brust oder in ihrem Herzen zu sehen.
Ich möchte etwas tun, womit ich Joy an zu Hause erinnere und das ihr zeigt, dass sie geliebt und vermisst wird. Ein Geschenk, das ist es. (Was wäre ich für eine Mutter, wenn ich sie an Weihnachten vergessen würde?) Ich nehme einen alten Parfümflakon vom Schminktisch und wickle ihn in einen meiner Seidenschals. Ich schlüpfe wieder in meine wattierte Jacke und stecke mir das Geschenk in die Tasche. Dann ziehe ich meine Arbeitshandschuhe an, schlinge mir aber einen roten Schal aus Babykaschmir aus meinem alten Leben um den Hals. Zum ersten Mal bin ich draußen auf der Straße so hübsch angezogen, das meiste ist allerdings unter der Jacke verborgen.
Mit dem Bus fahre ich zurück in Z. G.s Viertel, gehe zu seinem Haus und klingle. Eines der Dienstmädchen öffnet die Tür. Sie nickt, als hätte sie mich erwartet, und führt mich in den Salon. Ich ziehe Jacke und Handschuhe aus. Ein paar Minuten später betritt Z. G. den Raum. Ich finde, er sieht immer noch außergewöhnlich gut aus, und ich hoffe, er reagiert ähnlich auf mich. Doch als Erstes blickt er mir über die Schulter, um zu sehen, ob May bei mir ist. Um Fassung zu bewahren und mir keine Spur von Enttäuschung anmerken zu lassen, drehe ich mir den Jadearmreif am Handgelenk zurecht.
»Meine Dienstmädchen haben mir schon erzählt, du seist in der Stadt«, sagt er, und seine Stimme rinnt über mich hinweg wie Wasser über Felsen. Ein Hase ist immer vornehm und ruhig.
»Ich bin gekommen, um meine Tochter zu holen«, platze ich heraus.
»Deine Tochter?«
Seine Frage verrät mir, dass Joy nicht ehrlich zu ihm war.
»Joy«, sage ich. »Sie gehört mir. Ich habe sie aufgezogen. May hat sie mir gegeben.«
»Das hätte May nie getan, und Joy hat nichts davon gesagt …«
»Du wärst überrascht, was May alles tun würde.« Das hört sich bitterer an, als ich beabsichtigt hatte. Ich bemühe mich zu lächeln, um ihm zu zeigen, dass ich hier nicht die Böse bin. »Joy glaubte ihr ganzes Leben lang, ich sei ihre Mutter und mein Ehemann ihr Vater. Als sie die
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