Tochter des Glücks - Roman
Sehenswürdigkeiten zu besuchen und in Peking zu feiern, das war schön und gut, aber jetzt bin ich in Shanghai, in einem Haus, das auf vielerlei Weise ein Schrein für meine Mutter und meine Tante ist. Ich bin erst wenige Minuten hier, und schon habe ich einen Einblick, wie ihr Leben gewesen sein muss, wie die beiden waren. Das waren nicht die Menschen, mit denen ich aufwuchs. Und meine Tante May hatte bestimmt kein großartiges Schicksal – sie lebte in Chinatown, war mit Vern verheiratet und gab nie zu, dass ich ihre Tochter bin.
»Das ist wunderbar«, sage ich. »Alles ist wunderbar.« Wieder überkommt mich eine Welle der Übelkeit. »Ich kann es kaum erwarten, mehr über diese Zeit zu hören, aber ich habe Shanghai noch nicht gesehen. Hast du etwas dagegen, wenn ich einen Spaziergang mache? Ich bin bald wieder da. Wir haben so viel Zeit, nachdem ich jetzt hier bin.«
»Natürlich. Soll ich mitkommen?«
»Nein, nein. Ich möchte nur ein kleines bisschen spazieren gehen nach der langen Zugfahrt.«
Ich eile nach unten und trete hinaus in die Nacht. Es ist kalt, aber die frische Luft tut gut. Ich setze ein Lächeln auf. Ich bin hierhergekommen, um glücklich zu sein, und ich werde glücklich sein. Wenn ich lächle, kann ich meinen Körper vielleicht davon überzeugen, wie glücklich ich bin. Ich schaue in beide Richtungen und entscheide mich für rechts. Ich habe keine Ahnung, wohin ich gehe. Ich muss einfach nur laufen und weiterlächeln.
P EARL
Narben auf der Brust
I ch bin unterwegs zu Z. G.s Haus, wie gewöhnlich, wenn der Tag sich neigt. Im westlichen Kalender ist es der 15. Februar, drei Tage vor dem chinesischen Neujahr. Ich bin Christin, glaube nur an einen Gott, aber den Geist der Weihnacht konnte ich nur im Herzen tragen. Am Valentinstag dachte ich an nichts als Joy und die Karten, die sie immer für ihre Klassenkameraden gebastelt hat, als sie noch in der Grundschule war. Jetzt sind alle Leute um mich herum mit den Vorbereitungen für das Neujahrsfest beschäftigt: Sie kaufen Kleider, kehren die Eingangsstufen, besorgen besondere Zutaten. Überall sehe ich Joy. Ich war völlig überwältigt, als ich Z. G.s Neujahrsplakat mit Joy zum ersten Mal sah. Nun klebt es in Cafés, Läden, Arztpraxen und Schulen an der Wand. Angeblich sind fast zehn Millionen Drucke verkauft worden. Ich hoffe, dass jedes Stückchen Papier, das ich einsammle und abgebe, wiederverwertet und zu einem weiteren Plakat mit meiner Tochter darauf gemacht wird, denn wenn ich ihr lächelndes Gesicht sehe, weiß ich, dass es ihr gut geht.
Dann sehe ich sie wirklich.
Joy!
Festen Schrittes kommt sie auf mich zu, hat keine Angst im Dunkeln, als wäre sie gerade aus einem Plakat herausgestiegen und würde sich in der Stadt auskennen. Sie trägt Mays Mantel, denjenigen, den meine Schwester damals absichtlich irgendwo liegen gelassen hat. Z. G. muss ihn über all die Jahre aufbewahrt haben. Bei diesem Gedanken gerät mein Magen in Aufruhr, aber ich achte gar nicht darauf, denn meine Tochter ist nach Shanghai zurückgekehrt! Sie sieht mich direkt an, unsere Blicke treffen sich für den Bruchteil einer Sekunde, dann geht sie weiter. Sie erkennt mich nicht. Habe ich mich so sehr verändert? Weigerte sie sich zu sehen, was sie direkt vor Augen hatte, weil es für sie unvorstellbar war, dass ich hier sein würde? Vielleicht konnte sie mich auch in den vielen Schichten wattierter Kleidung nicht erkennen, und dazu noch mit einer Strickmütze über Haaren und Ohren und einem Schal um den Hals bis zur Nase.
Ich mache kehrt und folge ihr in sicherem Abstand. Eigentlich würde ich am liebsten zu ihr laufen und sie in die Arme schließen. Aber das lasse ich lieber bleiben. Ich habe einen ganzen Arbeitstag hinter mir und sehe aus wie eine richtige Papiersammlerin, was ich ja auch bin. Sie soll mich so nicht sehen. Auch Z. G. soll mich so nicht sehen. Genau. Ich habe den weiten Weg gemacht, um meine Tochter zu finden, und nun sehe ich sie und bin erfüllt von Eitelkeit. Wie wird mich Z. G. nach all dieser Zeit ansehen? Viele Jahre lang wusste ich, dass er irgendwo in China lebte. Ich hätte nie gedacht, dass ich ihm jemals wieder begegnen würde, aber Joy zu sehen, das bedeutet, dass ich auch Z. G. wiedersehen werde. Am liebsten möchte ich mich hinter dem Gebüsch gegenüber von seinem Haus verstecken, die beiden durch die Fenster beobachten, wie sie durch die Zimmer gehen, und warten, bis ich meine Gedanken und Gefühle so weit geordnet habe, dass
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