Tochter des Ratsherrn
waren wieder dicke Flocken vom Himmel gefallen. Auf jedem Weg und jedem Haus lag eine weiße, weiche Decke. Selbst die vielen Füße der Hamburger und die schweren Wagenräder hatten es diesmal nicht geschafft, den Schnee in den sonst braunen Matsch zu verwandeln. So mochte Runa den Winter. Die Stadt war weiß und eisig und sie selbst in viele Lagen Stoff gehüllt, sodass ihr die durchdringende Kälte nichts anhaben konnte.
Es war nur ein kurzer Weg bis in die Johannisstraße, in der das Schneiderehepaar Agatha und Voltseco von der Mühlenbrücke lebte. Die beiden besaßen ein großes Steinhaus, in dem stets ein reges Kommen und Gehen herrschte. Gerade Voltseco war weit über die Stadtmauern hinaus für seine Künste bekannt. Doch leider nicht ausschließlich dafür. Er war ein Frauenheld, der kein Geheimnis daraus machte, wie sehr er die Schmeicheleien der Damenwelt genoss.
Runa empfand großes Mitleid mit seiner Frau und brachte keinerlei Verständnis für ein solches Verhalten auf. Vielleicht bevorzugte sie deshalb den Umgang mit Agatha, welche zudem noch eine alte Freundin ihrer Mutter war.
So oft es ihr möglich war, besuchte sie die Gewandschneiderei. Runa liebte schöne Tuche, und im Gegensatz zu ihrer Mutter liebte sie auch das Sticken und Nähen. Manches Mal war es schon vorgekommen, dass sie bloß hatte schauen wollen, was die Tuchhändler an neuen Stoffen und Farben über das Meer in die Stadt gebracht hatten, und schließlich doch mit vollen Armen heimgekehrt war. Mehrfach hatte Walther sie deswegen schon getadelt und damit gedroht, Voltseco zu verbieten, ihr etwas zu verkaufen, doch bisher hatte sie es stets verstanden, ihren Gemahl mit einem hübschen Untergewand oder einem neuen Wams zu besänftigen.
Außerdem kam ihr der Umstand zugute, dass ihre Tochter ein echter Wildfang war. Freyjas Kleider sauber und heil zu halten war ein aufwendiger Zeitvertreib, dessen die Magd im Hause häufig alleine nicht Herr zu werden schien. Auch vergangenen Sonntag hatte es das Mädchen beim letzten Kirchgang geschafft, den Saum seines feinen Kleides so zu zerreißen, dass er unmöglich zu nähen war. Bereits vor einigen Tagen hatte Runa deshalb beschlossen, ein hübsches Stück Tuch auszusuchen, mit dem sie das untere Stück des Rocks ersetzen wollte. Auch wenn morgen schon Weihnachten war und ihr somit nur noch ein Tag Zeit blieb, wusste sie, dass sie es mit Leichtigkeit schaffen würde. Ihre Finger arbeiteten schnell – besonders des Nachts. Dass sie dafür mal wieder eine der teuren Wachskerzen würde opfern müssen, um etwas sehen zu können, verschwieg sie Walther besser.
Mit einem ächzenden Laut schulterte Agnes das Mehl und verließ darauf hastig die Niedermühle in Richtung Reichenstraße. Beim Müller war eine lange Schlange von wartenden Mägden gewesen. Sie hatten angestanden, um das zuvor erworbene Korn mahlen zu lassen. Keine von ihnen hatte Zeit zu vertrödeln – schon gar nicht vor Weihnachten –, und deshalb waren alle früh aufgestanden, um zu den Ersten zu gehören. Agnes selbst hatte sich entschieden, zunächst zum Fischmarkt zu gehen, um den Weihnachtskarpfen zu besorgen, doch das hatte sich als Fehler herausgestellt.
Eine halbe Ewigkeit hatte sie nun anstehen müssen, um ihr Mehl zu erhalten. Nun würde sie zu spät in das Haus ihrer Herrschaft zurückkehren, wo sie schon längst den Teig für die Fastenbrezeln hätte bereiten sollen. An Tagen wie diesem folgte unweigerlich ein Ärgernis dem anderen. Wie sie es hasste, dass sich nun alle anderen Tätigkeiten verzögerten und sie sich bis zum Abend durch ihr Tagwerk würde hetzen müssen! Bei ihrem Glück würde sie wahrscheinlich genau dann die Bäckerei betreten, wenn der erste Backvorgang bereits beendet war und der Ofen zunächst neu angeheizt werden musste.
O heilige Mutter Gottes, dachte die Magd bei sich, das hieße nochmals warten. Wann sollte sie nur den Hof und das Haus reinigen, wie es zu Weihnachten immer getan wurde? Nun ja, da half kein Jammern. Die Arbeit musste getan werden, und es würde kommen, wie es kommen sollte. Schließlich stand sogar in der Heiligen Schrift geschrieben: Alles hat seine Zeit. Sie würde ganz einfach mit den vielen Fastenbrezeln beginnen, die es noch zu kneten galt. Gleich zwanzig Stück sollte Agnes backen, denn in dieser Zeit zeigte sich jedermann großherzig, und so bekamen auch die Lahmen und Blinden auf den Stufen der Kirchen etwas von dem Gebäck.
Hinter der Tür des Schneiderhauses prallten
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