Tochter des Ratsherrn
das Kleid erschrocken aus den Fingern gleiten und wich zurück. »Mutter, ihre Beine«, stammelte Runa, ohne den Blick abzuwenden.
Nur mit Mühe konnte Ragnhild einen Schrei unterdrücken. Die Beine des Mädchens waren fast vollständig mit roten, blutigen Blasen übersät, von ihrem Fleisch löste sich bereits die Haut. Die Magd musste unerträgliche Schmerzen leiden; sie wälzte sich wild herum und warf ihren Kopf hin und her. Ragnhild zwang sich zur Ruhe, ging hinter Agnes auf die Knie und zog deren Oberkörper auf ihren Schoß. Dann umschloss sie die Verletzte mit ihren Armen und wiegte sie wie ein Kind. »Runa, lauf los, und hole Hilfe. Wir können Agnes nicht alleine zum Beginenkloster tragen. Ich bleibe solange bei ihr.«
Runa starrte noch immer auf die verbrühten Beine. Sie hörte nicht, was ihre Mutter sagte, bis diese einen strengeren Ton anschlug.
»Runa! Hast du nicht verstanden? Lauf los, und beeile dich!«
Nur wenig später kam sie tatsächlich mit Walther zurück, der die bedauernswerte Magd durch die halbe Stadt zu den Konventsschwestern trug. Irgendwo auf dem Weg dorthin wurde Agnes schließlich von der erlösenden Ohnmacht erfasst.
Erst spät am Abend kehrten die Frauen aus dem Kloster zurück. Ragnhild hatte Marga zu Runa geschickt, damit diese ihrer Tochter mit den Kindern und dem Haushalt zur Hand ging. Sie selbst hatte sich nach dem Vorfall in die Kirche St. Petri begeben, um für Agnes zu beten. Auch wenn es äußerst selten vorkam, dass sie häufiger als nötig in die Kirche ging, kam es ihr heute ganz selbstverständlich vor. Ihr Glaube war von jeher eher schwach gewesen, und sie begegnete den Geistlichen stets mit Skepsis, doch sie mochte die Ruhe, die in den Kirchen herrschte.
Runa saß der Schreck auch nach Stunden noch in den Gliedern. Keiner um sie herum wusste, wie er sich verhalten sollte. In der Regel war der Tag vor Weihnachten stets ein Tag der Freude und der Zusammenkunft, doch heute war die Stimmung gedrückt.
Nahezu wortlos saß Runa mit der Magd ihrer Mutter in der Wohnstube. Marga hatte sich des Saums von Freyjas Kleid angenommen. Für gewöhnlich tätigte die Magd des Hauses die Handarbeiten in der Küche, doch bislang wollte keiner diesen Ort des Schreckens mehr betreten. Noch immer stand die Wasserpfütze auf dem Boden, und auch der kaputte Kessel lag noch genau dort, wo er nach dem Unglück hingerollt war.
Als sich die Tür zur Wohnstube öffnete, zuckte Runa zusammen. Es war Walther, der sofort erkannte, wie schlecht es seiner Frau ging.
Auch Marga schien das nicht entgangen zu sein, denn sie huschte wie ein Schatten aus der Tür und murmelte, sie wolle nun die Küche aufräumen. Nur einen Wimpernschlag später fiel Runa ihrem Mann in die starken Arme. Sie weinte leise und presste sich an ihn, wie sie es schon lange nicht mehr getan hatte.
Obwohl die Umstände schrecklich waren, kam Walther nicht umhin, den Moment zu genießen. Immer wieder hatte er in der Vergangenheit versucht, ihr außerhalb des Ehebettes nahezukommen, doch sie war immer geschickter darin geworden, diese Momente zu vermeiden. Es musste scheinbar erst ein solches Unglück geschehen, dass sie sich freiwillig von ihm in die Arme schließen ließ. Diese Erkenntnis traf ihn hart, doch schlussendlich zählte nur eins: Jetzt, in diesem Augenblick, wollte sie bei ihm sein! Und so küsste er sie auf die Stirn und sog ihren wunderbaren Duft ein.
Nie könnte er eine andere Frau so lieben wie seine Runa. Warum nur fühlte sie nicht das Gleiche?
Wie erwartet wurde die Freude der Weihnachtsfeierlichkeiten durch das Unglück von Agnes getrübt. Runa und Walther versuchten sich der Kinder zuliebe zusammenzunehmen, doch selbst die Heiterkeit des sonst so schönen Krippenspiels wurde dieses Jahr von dem ungnädigen und durchdringenden Schreien des Salsnak-Kindes gemindert. Runa fragte sich, ob all das möglicherweise ein schlechtes Zeichen für das kommende Jahr sein mochte.
Wie sich nach wenigen Tagen herausstellte, ging es Agnes immer schlechter. Die Blauen Schwestern – wie die Beginen wegen ihrer blauen Kutten auch genannt wurden – wandten all ihr Können an, um der Magd zu helfen, trotzdem war das Fieber gekommen.
Runa besuchte sie regelmäßig. Nicht selten kniete sie sich sogar betend an Agnes’ Bett, und das, obwohl sie einen ähnlich schwachen Glauben wie ihre Mutter besaß. Auch wenn es sonst nichts gab, das sie für die Magd tun konnte, so war sie doch sicher, dass es keinen besseren Ort
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