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Tochter des Ratsherrn

Tochter des Ratsherrn

Titel: Tochter des Ratsherrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Tan
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dreigeschossige Haupthaus hatte seine tonnengewölbten Lagerräume im unteren Bereich. Links neben dem Eingang stand eine Tormauer mit rundbogiger Einfahrt, durch die man direkt in den Innenhof gelangte, welcher von zwei weiteren, kleineren Gebäuden flankiert wurde. Am Ende des Hofs befand sich das Reichenstraßenfleet mit dem hauseigenen Bootsanleger.
    Auch wenn das Fleet bei warmem Wetter oft stank, war hier Ragnhilds Lieblingsplatz. Albert hatte ihr eigens für diese Stelle einen Schemel und ein kleines Tischchen anfertigen lassen, an dem sie im Sommer sitzen konnte. Sie mochte das Rauschen des Wassers, und sie mochte es, draußen zu sein. Zu dieser Jahreszeit allerdings war der Platz am Fleet wie alles andere von jener dicken weißen Schneeschicht bedeckt, durch die sich Mutter und Tochter gerade kämpften.
    Dicht nebeneinander durchschritten sie die Pelzerstraße, überquerten eine Brücke und bogen nach links in die Reichenstraße ein. Sie kamen nur langsam voran, denn die Schneemengen auf den Straßen schienen während ihrer Zeit bei Agatha weiter angewachsen zu sein. Doch keine von beiden wollte sich beeilen, zu sehr genossen sie die gemeinsame Zeit, die ihnen blieb. Auch wenn sie sich mindestens jeden Freitag sahen, fiel ihnen immer etwas ein, über das es sich zu reden lohnte.
    »Weißt du, wer morgen das Jesuskind beim Krippenspiel ist?«, fragte Runa verschmitzt.
    »Nein«, gab Ragnhild zunächst einsilbig zurück, dann jedoch bemerkte sie das schelmische Lächeln ihrer Tochter. »Sag nicht, du weißt es. Wie hast du es rausbekommen?«
    »Ha, das verrate ich nicht, Mutter!«, rief Runa lachend und ergänzte gespielt wohlerzogen: »Ich will doch nicht von dir getadelt werden!«
    »Als ob dich Dickkopf das je gekümmert hätte. Los, erzähle es mir. Welches Kind wird es sein?« Ragnhilds Neugierde war nicht mehr zu bremsen. Jedes Jahr war diese Frage erneut Gegenstand von Tratschereien, denn jedes Jahr bestimmten die Pfarrvikare aller vier Hauptkirchen ein Kind für das Krippenspiel. Natürlich waren alle Mütter darauf bedacht, dass ihr eigenes Kind erwählt wurde, das heilige Jesuskind zu spielen, und so kam es, dass sich mit den Jahren eine Art Wettstreit daraus entwickelt hatte. Je nach Gesinnung des Pfarrvikars konnte die Wahl durch entsprechende Spenden beeinflusst werden. Vielen Hamburger Familien war keine Summe zu hoch, um ihrem Kind diesen Segen zuteil werden zu lassen und somit selber eine Art fromme Weihe zu erhalten, was sich für die Kirchen als durchaus einträgliches Geschäft erwies.
    Runa hakte sich noch fester bei ihrer Mutter unter und rückte näher an sie heran. Dann verkündete sie mit gedämpfter Stimme: »Es soll tatsächlich das hässliche Kind der reichen Alheid Salsnak werden, kannst du dir das vorstellen?«
    Ragnhild schlug erschrocken die Hand vor den Mund und erstickte so jedes Geräusch. »Du großer Gott, was für eine schlechte Wahl. Ich glaube kaum, dass das Jesuskind abstehende Ohren hatte.«
    Runa sah ihre Mutter zunächst erschrocken an. Dann aber begann sie lauthals über die allzu ehrlichen Worte zu lachen und rief: »Du bist ja noch viel bissiger, als ich es bin! Jetzt weiß ich, woher ich das habe.«
    Ragnhild fiel mit in das Gelächter ein und zog ihre Tochter rasch weiter, da einige Nachbarn schon argwöhnisch blickten.
    Ohne dass sie es bemerkt hatten, waren sie vor Runas und Walthers Haus angelangt. Gerade wollten sich die beiden Frauen voneinander verabschieden, als drinnen lautes Gepolter und ein gellender, nicht enden wollender Schrei ertönte, der ihnen die Nackenhaare aufstellte.
    »Agnes«, sagten Mutter und Tochter fast gleichzeitig und stürmten ins Haus, wo sie zielsicher die gleiche Richtung einschlugen. Das qualvolle Stöhnen und Weinen führte sie direkt in die Küche. Hier bot sich ihnen ein Bild des Entsetzens.
    Die Magd lag mit schreckgeweiteten Augen auf dem Boden und schrie mit sich überschlagender Stimme. Der Rock ihres Kleides war durchnässt – und er dampfte!
    Es dauerte einen Moment, bis die Frauen begriffen, was passiert war, doch der abgerissene Henkel des Kessels und die fast kochende Pfütze auf dem Boden gaben ihnen Aufschluss.
    »Agnes! Agnes! Beruhige dich«, versuchte Ragnhild zu dem Mädchen durchzudringen, das fortwährend schrie. »Wir müssen ihr das Kleid ausziehen, Runa.«
    Sofort fasste diese den kochendheißen Stoff am Saum, um ihr den Rock hochzuziehen. Doch sobald sie sehen konnte, was sich darunter verbarg, ließ sie

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