Tochter des Schweigens
geschah.
Eine halbe Minute verging. Dann tauchte ein Mann in der Tür auf, ein großer, kräftiger Bursche in Hemdsärmeln, mit grauem Haar und blassem faltigem Gesicht. Eine Serviette steckte in seinem offenen Hemd. Er kaute noch, und in dem klaren Mittagslicht konnte der Bruder einen Tropfen Soße an seinem Mundwinkel herunterlaufen sehen. Ohne ein Zeichen des Erkennens sah er das Mädchen an und stellte ihr eine Frage.
Sie schoß ihn in die Brust.
Die Wucht der Kugel schleuderte ihn gegen den Türstock, und schreckgelähmt sah der Mönch, wie sie ihn noch viermal traf, sich dann abwandte und ohne Eile auf die Polizeistation zuging. Noch dröhnte das Echo der Schüsse über die Piazza, als der Mönch zitternd und stolpernd losstürzte, um einem Mann Absolution zu erteilen, dessen Seele schon nicht mehr auf dieser Erde weilte.
Im fünf Meilen entfernten Siena saß Doktor Alberto Ascolini für sein Porträt – eine Belanglosigkeit, der er sich mit Ironie unterzog.
Er war ein großer Mann von fünfundsechzig Jahren, mit einem lebhaften rosigen Gesicht und einer schneeweißen Mähne, die betont wirr über seinen Kragen floß. Er trug einen seidenen Anzug, makellos geschnitten, doch wohlberechnet unmodern, die seidene Krawatte schmückte eine Brillantnadel. Er sah wie ein Schauspieler aus – ein äußerst erfolgreicher Schauspieler. Doch er war Rechtsanwalt. Einer der erfolgreichsten Anwälte Roms.
Die Malerin war schlank und dunkel, Ende Zwanzig, mit braunen Augen, offenem Lächeln und ausdrucksvollen, schönen Händen. Sie hieß Ninette Lachaise. Ihr Atelier überblickte die Dächer Sienas, bis hin zum Campanile der Assunta. Es war geteilt in Studio und Wohnraum und eingerichtet mit ausgesuchten Stücken einheimischer Handwerkskunst. Ihre Bilder waren Spiegel ihres Wesens – lichtüberflutet, wenig detailliert und voller Bewegung. Eine Fortentwicklung der primitiven toskanischen Tradition zur Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts.
Sie fertigte mit Kohle eine Anzahl lebendiger Skizzen von ihrem Modell, das halb im Schatten, halb in der Sonne sitzend, Skandalgeschichten aus römischen Prozessen erzählte.
Es war eine Glanzleistung – von ihr wie von ihm. Die Geschichten des alten Mannes waren voll Witz, Bosheit und raffinierter Schlüpfrigkeit.
Die Skizzen waren lebendig und echt – es schien, als steckten ein Dutzend Männer in der rosa Haut dieses ungemein intelligenten Lebemannes.
Ascolini beobachtete sie mit seinen klugen Augen und sagte schließlich unvermittelt und voller Scheinpathos: »Wenn ich bei Ihnen bin, Ninette, trauere ich stets meiner Jugend nach.«
»Wenn Sie nichts anderem nachtrauern müssen, dottore«, sagte sie mit leiser Ironie, »dann sind Sie ein sehr glücklicher Mensch.«
»Was gibt es sonst noch, das des Nachtrauerns wert wäre – ausgenommen die Torheiten, die man nicht begangen hat?«
»Vielleicht die Folgen der Torheiten, die man begangen hat.«
»Aber, aber, Ninette.« Ascolini gestikulierte mit seinen ausdrucksvollen Händen und lachte trocken. »Keine Vorlesungen, bitte. Heute ist mein erster Urlaubstag. Ich bin hergekommen, um abgelenkt zu werden.«
»Nein, dottore«, sie lächelte und zeichnete mit raschen kräftigen Strichen weiter, »ich kenne Sie zu gut und zu lange. Wenn Sie mit mir Kaffee trinken oder mich zum Essen einladen, dann sind Sie mit der Welt zufrieden. Wenn Sie mir einen Auftrag geben oder mir zuviel für meine Landschaften bezahlen, dann haben Sie irgendein Problem. Sie bieten mir ein Honorar, um es zu lösen. Eine schlechte Gewohnheit ist das, nicht? Macht Ihnen gar keine Ehre.«
Sein glattes, noch immer jugendliches Gesicht umwölkte sich flüchtig, dann lächelte er verlegen. »Aber Sie nehmen das Honorar trotzdem, Ninette. Warum?«
»Ich verkaufe Ihnen meine Bilder, dottore, nicht meine Sympathie. Die haben Sie umsonst.«
»Sie beschämen mich, Ninette«, sagte der alte Mann.
»Nichts beschämt Sie, dottore. Und das ist auch die Wurzel all Ihrer Kümmernisse. Mit Valeria, mit Carlo und mit sich selbst. Fertig!« Sie machte einen letzten Strich und wandte sich ihm mit ausgestreckter Hand zu. »Genug der Worte. Die Sitzung ist zu Ende. Kommen Sie und sehen Sie sich's an.«
Sie führte ihn zur Staffelei und hielt ihn bei der Hand, während er die Skizzen ansah. Er schwieg lange und sagte schließlich ohne jeden Spott: »Sind das alles meine Gesichter?«
»Nur die, die Sie mir zeigen.«
»Sie glauben, ich habe noch mehr?«
»Ich weiß
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