Tochter des Schweigens
sie hatte gefragt: »Warum, Basilio, warum muß es immer so sein?«
»Wie sein?« fragte Lazzaro gereizt und griff nach seiner Krawatte.
»Wenn wir uns treffen, ist es wie die Ouvertüre zu einer Oper. Wenn wir uns lieben, ist alles Drama und Musik. Wenn wir uns trennen, ist es, als ob wir ein Taxi bezahlten.«
Lazzaros dunkles hübsches Gesicht zeigte Verwirrung. Er runzelte die Stirn.
»Was erwartest du, caía ? So ist das nun mal. Wenn du den Wein getrunken hast, dann ist die Flasche leer. Wenn die Oper zu Ende ist, bleibst du nicht da und wartest auf die Putzfrau. Du hast dein Vergnügen gehabt und gehst nach Haus und wartest auf die nächste Vorstellung.«
»Und das ist alles?«
»Ich frage dich, was sollte denn sonst noch sein?«
Es war ein hübsches Rätsel, auf das sie weder früher noch jetzt eine Antwort gefunden hatte. Sie rätselte noch immer daran, als die Standuhr Viertel vor zwölf schlug und es Zeit war, zu baden und sich zum Mittagessen anzuziehen.
Die Piazza von San Stefano war belebt wie ein Ameisenhaufen. Das ganze Dorf war auf den Beinen und drängte sich aufgeregt schwatzend um das Haus des Toten. Eine Gruppe Männer stritt mit dem Polizisten, der vor der Polizeistation Wache stand, doch war nichts Aufrührerisches in ihrem Benehmen, keine Feindseligkeit in ihrem Verhalten. Sie waren nur Zuschauer, durch Neugier in ein dramatisches Spiel verstrickt.
Aus dem Fenster seines Büros beobachtete Sergeant Fiorello die Menge mit scharfen Augen. So weit, so gut. Sie waren aufgeregt, doch harmlos wie Schafe in der Hürde. Es drohte kein gewalttätiger Ausbruch. In einer Stunde würden die Beamten von Siena den Fall übernehmen. Die Familie des Ermordeten war mit ihrem eigenen Schmerz beschäftigt. Er hatte Zeit, sich um die Gefangene zu kümmern.
Sie saß zusammengesunken und mit gebeugtem Kopf auf einem Stuhl. Zuckungen erschütterten ihren Körper. Fiorellos schlankes ledernes Gesicht wurde sanft, als er sie ansah. Er goß Brandy in einen irdenen Becher und hielt ihn an ihre Lippen. Am ersten Schluck drohte sie zu ersticken, dann nippte sie langsam. Nach einer kleinen Weile beruhigte sie sich, und Fiorello bot ihr eine Zigarette an. Sie lehnte ab und sagte mit tonloser Stimme: »Nein, danke, es geht mir schon besser.«
»Ich muß Ihnen Fragen stellen. Das wissen Sie doch?« Für einen so massigen Mann war seine Stimme seltsam sanft. Das Mädchen nickte teilnahmslos.
»Ich weiß.«
»Wie heißen Sie?«
»Das wissen Sie ja schon. Anna Albertini. Ich war früher Anna Moschetti.«
»Wem gehört die Pistole?« Er hob die Waffe auf und hielt sie ihr auf der flachen Hand hin. Sie zuckte nicht zusammen und wandte sich auch nicht ab. Sie sagte einfach:
»Meinem Mann.«
»Wir müssen ihn benachrichtigen. Wo ist er?«
»In Florenz. Vicolodegli Angelotti Nummer sechzehn.«
»Ist da Telefon?«
»Nein.«
»Weiß er, wo Sie sind?«
»Nein.«
Ihre Augen waren leer, sie saß steif und bleich auf ihrem Stuhl. Ihre Stimme klang mechanisch und metallisch wie die eines Menschen unter Hypnose. Einen Augenblick zögerte Fiorello, dann fragte er:
»Warum haben Sie das getan, Anna?«
Zum erstenmal erschien eine Spur von Leben in ihrer Stimme und ihren Augen.
»Sie wissen, warum. Es kommt nicht darauf an, wie ich es sage oder wie Sie es aufschreiben.«
»Dann sagen Sie mir etwas anderes, Anna. Warum haben Sie diesen Zeitpunkt gewählt, Anna? Warum haben Sie es nicht vor einem Monat getan oder vor fünf Jahren? Warum haben Sie nicht noch länger gewartet?«
»Ist das denn wichtig?«
Fiorello spielte abwesend mit der Pistole, die Gianbattista Belloni getötet hatte. Auch seine Stimme nahm einen nachdenklichen Ton an, als erlebe auch er noch einmal Ereignisse, die längst vergangen waren.
»Nein, es ist nicht wichtig. Sehr bald wird man Sie von hier fortbringen. Sie werden angeklagt und verurteilt und für zwanzig Jahre in ein Gefängnis geworfen werden, weil Sie einen Mann kaltblütig ermordet haben. Ich fragte nur, um die Zeit auszufüllen.«
»Zeit.« Sie griff nach dem Wort, als wäre es der Schlüssel zu einem lebenslangen Mysterium. »Es war nicht wie auf eine Uhr sehen oder die Seiten von einem Kalender abreißen. Es war … es war wie ein Weg eine Straße entlang, immer dieselbe Straße, immer dieselbe Richtung, dann endete die Straße, hier in San Stefano, vor Gianbattista Bellonis Haus. Sie verstehen es, nicht wahr?«
»Ja, ich verstehe es.«
Doch das Verstehen war zu spät gekommen. Er
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