Tod & Trüffel
Spitzen seiner Schlappohren waren stets mit Speiseresten bedeckt, das Fell mit seinen großen bernsteinfarbenen Flecken wirkte wie ausgebeult durch das ständige, ausufernde Fressen. Neben dem goldenen Napf des Priesters stapelten sich Hundefutterdosen, Knochen und teure getrocknete Fleischstreifen, einzeln verpackt. Doch egal wie viel der Priester hatte, er gab nie etwas ab.
Deshalb fragte Giacomo gar nicht erst, obwohl sein Magen knurrte. Jetzt, da er das ganze Futter vor sich liegen sah, sogar noch mehr. Doch er würde den Priester niemals nach Essen fragen. Das machten nur Neuankömmlinge.
»Du kennst die Menschen doch«, sagte Giacomo und setzte sich. »Ich dagegen habe mich nie sehr mit ihnen beschäftigt. Deshalb erklär mir bitte etwas ... «
Plötzlich stand der Priester auf. »Es läutet«, sagte er. »Ich muss.« Und er erhob sich flinker, als Giacomo es ihm zugetraut hätte, setzte sich auf die Hinterbeine, wuchtete sich mit den Vorderläufen empor und legte die Pfoten aneinander.Der Priester betete. Die Menschen in den hölzernen Gebetsbänken wandten die Köpfe, flüsterten sich erstaunt zu, einige schossen Fotos und wurden dafür von anderen zurechtgewiesen. Ein Pfarrer erschien am Altar und bat um Ruhe, indem er den Zeigefinger an die Lippen hob.
Es war vor etlichen Monaten gewesen, dass sich die völlig heruntergekommene Bracke in die Kirche gestohlen und um Essen gebettelt hatte. Dafür hatte sich der Rüde wie immer auf die Hinterbeine gesetzt und die Pfoten erhoben – doch es hatte nichts genützt. Irgendwann war er so müde gewesen, dass er die Pfoten nicht mehr hochbekam, sie nur noch kraftlos gegeneinanderfielen. Er hatte »gebetet«. Da hatte er vom Pfarrer höchstselbst einige Hostien bekommen.
Seither betete er täglich.
Als das Läuten endete, legte sich die Bracke wieder hin. »Ich mach’s nur noch beim Mittagsläuten. Reicht völlig. Das Futter rollt beständig an«, sagte er und wandte sich dem alten Trüffelhund zu. »Du sprachst eben von Menschen, Giacomo. Es sind merkwürdige Wesen, diese Menschen. Sie haben den Hang zu unnötigen Bewegungen, weißt du. Sie rennen, wenn sie nicht jagen oder gejagt werden, sie schlagen und treten Bälle, die sie nicht angreifen, sie rollen auf Brettern, wo sie doch Füße haben. Merkwürdige Gestalten, diese Menschen. Doch mit Futter kennen sie sich aus.« Er schob eine neongelbe Dose verächtlich von sich. »Zumindest die meisten.«
»Es geht mir darum, was gerade geschehen ist. Eigentlich sollte ich jetzt ein Tramezzino essen, aber dazu ist es nicht gekommen. Weil Folgendes passiert ist ... «
»Weißt du, Menschen müssen dressiert werden«, unterbrach der Priester Giacomo. »Es dauert lange, doch es geht. Sie sind nicht dumm, nur manchmal zu unaufmerksam. Also muss man als Hund Geduld aufbringen. Du lernst das auch noch.«
Giacomo hasste es, belehrt zu werden, vor allem von einem Hund, der jünger war als er. »Wir haben alle noch vieles zu lernen«, sagte er.
»Siehst du die ganzen Menschen hier? Viele sind wegen mir gekommen, und von Tag zu Tag werden es mehr. Sie verehren mich und bringen mir Speisen. Es ist manchmal lästig, doch ich lasse ihnen die Freude.« Er schlug mit der Pfote lautstark auf eine Tüte mit getrockneten Fleischstreifen, und ein Mädchen aus der letzten Bankreihe mit blondem, geflochtenem Zopf, einer funkelnden Zahnspange und verheulten Augen spurtete zu ihm, um sie zu öffnen.
»Siehst du«, sagte der Priester. »Auch diese Freude gönne ich ihnen. Natürlich könnte ich die Packung ebenso gut selbst öffnen, aber wo sie doch so einen Spaß daran haben.« Er öffnete das Maul wie ein träges Nilpferd und ließ sich den Streifen hineinschieben. »Doch was ich eigentlich über diese merkwürdigen Menschen sagen wollte: Die Kirche ist nicht nur wegen mir so voll, sondern weil sie ein großes Fest abgesagt haben, das für heute geplant war. Nun sitzen sie hier, sind traurig und beten, senken die Köpfe, als habe jemand sie geschlagen. Schon den ganzen Tag. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Warum feiern sie nur nicht?«
»Ist vielleicht jemand gestorben? Eines ihrer Leittiere?«
»Niemand ist aufgebahrt.«
Der Duft des Fleischstreifens drang zu Giacomo, und er musste mit ansehen, wie die feiste Bracke ein Stück nach dem anderen herunterschlang. »Hast du auch Hunger, Giacomo? Du schaust so?«
»So sehe ich immer aus«, sagte Giacomo.
»Es ist sowieso alles für mich, du hast hier schließlich nicht gebetet.
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