Tod an der Ruhr
Kohlenstoff entzieht. Frischen nennen die Hüttenleute das. Stahl kann man schmieden und walzen. Roheisen ist dafür zu spröde. Das kann man nur gießen. Der moderne Brückenbau, der Dampfkessel- und Eisenbahnbau, das alles wäre ohne Stahl nicht möglich. Die Engländer hatten schon im vorigen Jahrhundert brauchbaren Stahl. Bei uns war Krupp in Essen der Erste, der wirklich guten Stahl gemacht hat. Von Krupp hast du schon mal was gehört, nehme ich an.«
»Natürlich kenne ich die Krupps.« Grottkamp erinnerte sich mit Unbehagen an die Blöße, die er sich vor ein paar Tagen im Gespräch mit dem Gemeindevorsteher gegeben hatte.
»Denen gehörte übrigens auch mal unsere Gutehoffnungshütte«, erzählte Kerseboom. »Die Witwe Amalie Krupp erwarb sie zu Beginn des Jahrhunderts und überschrieb sie 1807 ihrem Enkel Friedrich, dem alten Krupp, der später die Fabrik in Essen gegründet hat.«
»Ich wette, das weiß nicht mal der Overberg«, sagte Grottkamp. »Und wieso ist der Friedrich Krupp damals nicht in Sterkrade geblieben?«
Kerseboom lachte. »Weil die alte Dame nach einem Jahr die Überschreibung wieder rückgängig gemacht hat. Der Enkel war ihr zu experimentierfreudig, und die Geschäfte liefen schlecht. Amalie Krupp verkaufte die Sterkrader Hütte an Heinrich Huyssen. Antony und Neu-Essen gehörten zu der Zeit den Brüdern Franz und Gerhard Haniel, zwei Kaufleuten aus Ruhrort, und Gottlob Jacobi, dem früheren Hütteninspektor der Essener Äbtissin. Die vier Herren hatten aus den Problemen der Vergangenheit gelernt. Außerdem waren sie miteinander verschwägert. So taten sie sich zusammen, und aus den drei alten Hütten wurde 1808 die Hüttengewerkschaft Jacobi, Haniel & Huyssen.«
»Und dann wurden Bauerndörfer zu Industriedörfern, und aus Wiesen wurden Baulücken«, murmelte Grottkamp.
Seit mehr als einer Stunde saß er jetzt mit Kerseboom an einem Tisch mitten in Kaspar Ostrogges Gaststube. Hierhin, in die Marktschänke, war er vor Carl Overbergs und Schwester Laurentias optimistischer Weltsicht geflüchtet. Natürlich konnte sein Freund nicht ahnen, dass er gerade an diesem Abend alles andere lieber gehört hätte als die Geschichte von den Anfängen dieses ach so schönen Industriezeitalters.
Wenn Kerseboom von Minna und Tine erzählt hätte, wenn er über die Pflichten eines Ehemannes oder über die Sorgen eines Familienvaters gesprochen hätte, dann hätte Grottkamp ihm aufmerksam gelauscht. Jetzt war er froh, dass Kaspar Ostrogge mit drei Krügen Bier an ihren Tisch kam und sich zu ihnen setzte.
Mit gespieltem Erstaunen fragte der Wirt: »Hat der Arnold etwa die Geschichte der Hütte schon zu Ende erzählt? So schnell hat er das ja noch nie geschafft.«
»Eigentlich bin ich ja gerade erst am Anfang«, stellte Kerseboom lachend fest. »Aber ich glaube, dem Martin reicht es für heute.«
Gerade als die drei Männer einander zuprosteten, öffnete sich die Tür zur Gaststube, und Jacob Möllenbeck trat ein. Er hängte seinen nassen Rock an den Kleiderständer, strich den Regen aus seinem schütteren Haar und strahlte beim Anblick seiner Freunde, als hätten Josephine und Laurentia ihn angesteckt.
»Was soll das denn? Ihr trinkt ohne mich?«, fragte er fröhlich, während er sich zu ihnen setzte.
»Mit dir hatten wir nun wirklich nicht gerechnet«, erwiderte Kaspar Ostrogge.
»Die Clemensschwestern, ich kann euch sagen, die sind eine Wucht«, platzte es aus Möllenbeck heraus. »Beide sind ganz ausgezeichnet geschulte und erfahrene Krankenwärterinnen. In der Cholerabaracke haben sie sofort alles in die Hand genommen. Und dann haben sie mich weggeschickt. Ich solle mal ausspannen, haben sie gesagt. Und jetzt bin ich hier.«
»Das wird auch Zeit, dass dir mal jemand was von deiner Arbeit abnimmt«, meinte Ostrogge und stand auf. »Ich hole dir jetzt erst mal ein feines Pils.«
Jacob Möllenbeck nickte gut gelaunt. Grottkamp betrachtete den Freund mit wachsendem Erstaunen. So müde und bedrückt, wie der Heildiener am Morgen im Gasthaus »Zum dicken Klumpen« gehockt hatte, so heiter und entspannt saß er jetzt in der Marktschänke. Als könnten sie Wunder wirken, diese Barmherzigen Schwestern, ging es Martin Grottkamp durch den Kopf.
»Wo bleiben eigentlich unsere Ärzte?«, fragte Kerseboom. »Ich meine, der Krieg ist doch vorbei. Schon vor beinahe drei Wochen wurde in Prag Frieden geschlossen. Mich wundert, dass die beiden nicht längst wieder in Sterkrade sind.«
»Meinst du, wenn der
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