Tod an der Ruhr
der Gründer unserer Hüttengewerkschaft, hat persönlich in Berlin vorgesprochen. Anfang der fünfziger Jahre war das. Aufgrund seiner Intervention wurde die Strecke nicht schnurgerade, sondern in einem leichten Bogen gebaut, so dass sie jetzt durch Sterkrade verläuft.«
»Sonst wären wir jetzt sicher noch nicht hier«, sagte Schwester Laurentia fröhlich.
»Nein, gewiss nicht«, bestätigte Overberg. »Wäre es so gekommen, wie ursprünglich geplant, dann hätten Sie mit dem Zug bis Holten fahren und dort in eine Pferdebahn umsteigen müssen.«
Kurz bevor die kleine Gruppe den Kirchplatz erreichte, begann es zu regnen. Grottkamps Verwunderung darüber hielt sich in Grenzen. Warum sollten in einer Welt wie dieser die alten Bauernregeln noch ihre Gültigkeit haben?
Josephine und Laurentia wollten nach einem kurzen Gebet in der Clemenskirche sofort weiter in die Cholerabaracke. »Deshalb sind wir schließlich hier«, sagte Josephine lächelnd.
Erst nach Dechant Wittes Machtwort willigten die Clemensschwestern ein, zunächst im Pfarrhaus etwas zu essen. Dann sollten sie die beiden Zimmer im Haus vom Meister Duesberg beziehen, die der Pfarrer für sie angemietet hatte, und von dort aus sollte es zusammen mit Möllenbeck zur Cholerabaracke gehen.
Grottkamp hatte kein Interesse an weiteren Gesprächen über Baulücken und Geschenke des Himmels. Er gab vor, dringend einige Erkundigungen in Sachen Felddiebstahl einziehen zu müssen und verabschiedete sich.
»Das war früher ziemlich verrückt. Alle paar Meilen eine Grenze, Schlagbäume und Zollstationen, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Oben an der Dorstener Straße kamst du rüber vom Vest Recklinghausen, das damals dem Erzbischof von Köln gehörte. Hier in Sterkrade warst du dann im Herzogtum Kleve, also im Königreich Preußen. Und nach einem halbstündigen Fußmarsch in südliche Richtung standest du an der Emscher schon wieder vor einem Schlagbaum, nämlich an der Grenze zum Stift Essen.
Als damals in dieser Gegend Sumpf- und Raseneisenerz gefunden wurde, wollte jeder Landesherr daran verdienen. So entstanden drei Hütten in unmittelbarer Nachbarschaft. Es begann 1758 in Osterfeld, im Vest Recklinghausen also, mit Sankt Antony, der ältesten Eisenhütte, die es überhaupt an Ruhr und Emscher gibt. Die Gutehoffnungshütte, hier in Sterkrade, nahm 1782 ihren Betrieb auf. Und schließlich wollte auch die Äbtissin von Essen noch was von dem Kuchen abhaben und gründete 1792 die dritte Hütte, nämlich Neu-Essen südlich der Emscher.«
Grottkamp kraulte nervös seinen buschigen Bart. So genau wollte er das alles eigentlich gar nicht wissen. Aber das hatte er sich nun selbst eingebrockt. Dem Arnold Kerseboom zu erzählen, er sei heute am Hüttenwerk Oberhausen vorbeigekommen und habe sich gefragt, wieso eigentlich das alte Werk an der Emscher »Neu-Essen« heiße, das war leichtfertig.
Wenn es um seine Hütte ging, dann war der Former Arnold Kerseboom nur schwer zu bremsen. Die Geschichte der Hüttengewerkschaft kannte er wie kaum ein anderer. Was darüber geschrieben worden war, das hatte er gelesen. Was darüber erzählt wurde, das hatte er in seinem Gedächtnis gespeichert. In seinem alten Freund Martin Grottkamp glaubte er endlich noch mal einen interessierten Zuhörer gefunden zu haben, und die Gelegenheit konnte er nicht ungenutzt verstreichen lassen.
»Auf Dauer ging das natürlich nicht gut, drei Hütten, die auf so engem Raum miteinander konkurrierten. In ihren Hochöfen wurde Roheisen gewonnen, wirklich guten Stahl erzeugen konnte damals noch niemand. Also wurde das Eisen zu allerlei Waren vergossen, zu Töpfen und Pfannen, zu Gewichtssteinen, Kesseln und Bügeleisen, zu Öfen und Eisentoren und sogar zu Artilleriemunition, zu Mörsern und zu Grabdenkmälern. Schon bald gab es erste Engpässe bei der Beschaffung von Eisenerz und Holzkohle. Die Köhler konnten die riesige Nachfrage nicht befriedigen, und immer öfter musste ein Hochofen aus Mangel an Eisenstein oder an Holzkohle ausgeblasen werden. Es lief nicht immer gut für die drei Hütten, und ihre Besitzer wechselten im Laufe der Zeit etliche Male.«
»Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Eisen und Stahl?« Als Grottkamp die Frage herausgerutscht war, biss er sich auf die Unterlippe. Hoffentlich war das kein neuer Anlass für Kerseboom, ausufernde Erklärungen abzugeben.
»Stahl ist gewissermaßen Eisen von besserer Qualität. Man gewinnt ihn, wenn man dem Roheisen
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