Tod an der Ruhr
danach fragen, wie es denn wohl denen am Tag des Gerichtes ergehen werde, die Sonntag für Sonntag vor der Kirchentür bleiben mussten, weil das Gotteshaus überfüllt war.
Heute hatte Grottkamp einen Platz inmitten eines zertretenen Matschloches gefunden, von dem aus er wenigstens dann und wann einen Blick durch das offene Portal in das Innere der Clemenskirche werfen konnte. So hatte er wohl mitbekommen, dass Anton Witte zur Kanzel emporgeklettert war, um mit der Sonntagspredigt zu beginnen. Verstehen konnte er allerdings kein Wort. Erst als Witte urplötzlich seine Stimme zu einem Donnergrollen anschwellen ließ, um der Ermahnung seiner Schäfchen den nötigen Nachdruck zu verleihen, bekam Grottkamp mit, worum es ging. Dass am Fest Mariä Geburt nur wenige Sterkrader den Weg ins Gotteshaus gefunden hatten, ließ den sonst so sanftmütigen Pfarrer erzürnen.
»Da feiert eure himmlische Mutter, die allzeit ihren schützenden Mantel um euch breitet, ihren Geburtstag, und was tut ihr? Kommt ihr hierher, um sie zu ehren? Nein, ihr geht auf die Felder und grabt eure Kartoffeln aus!«, schimpfte Dechant Witte.
Dann fand er, ebenso plötzlich wie er zu poltern begonnen hatte, zu seiner Sanftmut zurück. Wenn die Kartoffeln jetzt noch in der matschigen Erde lägen, wäre das der Gottesmutter sicher auch nicht recht, vermutete er. Also werde Maria es den Sterkradern wohl nicht allzu übel nehmen, dass sie das trockene Wetter am Samstag genutzt hätten, um die Ernte einzubringen, anstatt mit ihr Geburtstag zu feiern.
Anton Witte trug seinen Schäfchen auf, gleich am Mittagstisch den Rosenkranz zu beten, sozusagen als nachträglichen Geburtstagsgruß an die allerseligste Jungfrau und als Dank dafür, dass die Kartoffeln trocken im Keller lägen. Damit sei die Sache dann wohl aus der Welt, meinte der Pfarrer nachsichtig. Weil Witte längst seine Stimme wieder gesenkt hatte, waren seine versöhnlichen Worte nicht bis zu den Ohren der Gläubigen gelangt, die vor der Tür der Clemenskirche im Nieselregen standen.
Grottkamp musste sich eingestehen, dass er gestern nicht einmal an das Fest Mariä Geburt gedacht hatte. Er hatte den Tag in Begleitung zweier Lohnhuren begonnen und am Nachmittag zwei Barmherzige Schwestern vom Bahnhof abgeholt. Der Tod des Klumpenwirts hatte ihn an diesem achten September beschäftigt und die Fahndung nach zwei feigen Kartoffeldieben. Und schließlich hatten ihn die Neuigkeiten, die er von Arnold Kerseboom über Mister Banfield erfahren hatte, aufs Äußerste beunruhigt. So war es nun einmal, das Leben eines Polizeidieners. Er konnte zwar nicht seinen schützenden Mantel um die Sterkrader breiten, aber er konnte für Ruhe und Ordnung sorgen. Und in einer Zeit, in der unsittliche Frauen, Diebe und Aufwiegler, ja vielleicht sogar ein gemeiner Mörder, im Dorf herumschlichen, war das nicht wenig. Deshalb glaubte Martin Grottkamp, er dürfe durchaus mit der Nachsicht der Gottesmutter rechnen, obwohl er über seinem Diensteifer ihren Geburtstag vergessen hatte.
Kurz bevor Dechant Witte mit dem Kelch in der Hand durch das Portal trat und sich auf die unterste Stufe der Kirchentreppe stellte, um an die draußen stehenden Gläubigen die Kommunion auszuteilen, hörte es auf zu regnen. Noch immer war der Himmel diesig und grau, aber die Gesichter der Menschen hellten sich auf. Die Frauen schlugen ihre Tücher zurück, und die Männer hoben ihre Köpfe.
Grottkamp strich sich durchs nasse Haar und schüttelte seinen Bart aus. Jetzt erkannte er einige der Umstehenden: den Kolonialwarenhändler Heinrich Krumpen, den Lehrer Weyer und die Pilzfrau vom Wochenmarkt. Und dann sah er in das Gesicht von Martha Terfurth. Die Ähnlichkeit des Mädchens mit der jungen Elisabeth faszinierte ihn wieder, aber sie schmerzte ihn heute nicht. Neben Martha entdeckte er Maria Schneider, die Magd des verstorbenen Klumpenwirts. Er stellte fest, dass die Mädchen etwa gleichaltrig waren, und er fragte sich, ob die beiden nur zufällig nebeneinanderstanden.
Ihm ging durch den Kopf, dass das Zimmermädchen Maria Schneider allerlei mitbekommen haben musste von dem, was im Gasthaus »Zum dicken Klumpen« vor sich ging. Auch dass der Hammerschmied Julius Terfurth sich dort zu Tode gesoffen und mit Margarete Sander herumgehurt hatte, konnte ihr nicht entgangen sein.
Wusste etwa auch Martha, was ihr Vater in den Nächten getrieben hatte, in denen er nicht nach Hause gekommen war?
Als Maria Schneider und Martha Terfurth nach Dechant
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