Tod an der Ruhr
Krieg vorbei ist, sind die Verwundeten wieder gesund? Nein, mein Lieber, es ist nun mal so, dass die Arbeit im Lazarett erst richtig anfängt, wenn die Arbeit auf dem Schlachtfeld getan ist«, sagte der Heildiener.
Arnold Kerseboom sah ihn nachdenklich an. »Dann kann es wohl noch eine Weile dauern, bis die Herren Doktoren zurück sind.«
»Gut möglich«, bestätigte Möllenbeck.
»Viertausend Menschen ohne einen Arzt, und das für Wochen, vielleicht für Monate, das ist doch unverantwortlich von den Militärbehörden«, befand Kerseboom. »Wenn wir wenigstens noch einen Wundarzt in Sterkrade hätten, wie früher den Joseph Heymann!«
Jacob Möllenbeck lachte. »Wundärzte sind heutzutage nur noch einige ältere Herren, die vor 1852 ihre Zulassung bekommen haben. Seitdem die neue preußische Medizinalordnung in Kraft ist, gibt es nur noch die studierten Ärzte und die eher handwerklich ausgebildeten Heildiener. Die sind heute für die Ausübung der kleinen Chirurgie zuständig.«
»Also bist du als Heildiener gewissermaßen ein moderner Wundarzt?«, fragte Kerseboom nach.
Möllenbeck nickte.
»Eigentlich bin ich ja Lazarettgehilfe«, erklärte er. »Aber meine Zulassung als Heildiener durch den Kreisphysikus war reine Formsache. Nach unserer Medizinalordnung ist nämlich der ausgebildete Militärlazarettgehilfe dem geprüften Heildiener gleichgestellt.«
Martin Grottkamp bekam vom Gespräch der beiden Freunde kaum etwas mit. Als Ostrogge mit einem Krug Bier für Möllenbeck zurück an den Tisch kam, war er mit seinen Gedanken auf dem Grottkamphof und fragte sich, wie es wohl sein würde, morgen zusammen mit Sybilla am Mittagstisch zu sitzen.
SIEBZEHN
Die Kirchturmspitze von Sankt Clemens war an diesem Sonntagmorgen dem Himmel so nah wie selten, einem tief hängenden, grauen Himmel, der trübe Trostlosigkeit über das Dorf Sterkrade breitete.
Ein böiger Wind trieb den Regen, der seit gestern unablässig herabnieselte, in die mürrischen Gesichter der Kirchgänger, die während des Hochamtes vor dem Gotteshaus standen. Die Frauen hatten ihre Tücher über die Augen gezogen. Die Männer hielten während der Messfeier ihre Kappen und Hüte in den Händen und wendeten sich mit tief gebeugten Häuptern trotzig gegen die Unbilden des Wetters.
Während der Nacht hatte der andauernde Regen den Kirchplatz mit zahlreichen Wasserpfützen bedeckt. Hunderte Sterkrader waren an diesem Morgen schon durch sie hindurchgewatet, hatten während der beiden frühen Messen darin herumgestanden und den Boden rings um Sankt Clemens zu einem morastigen Brei zerstampft.
Jetzt, während des von Dechant Witte zelebrierten feierlichen Hochamtes, waren es wohl mehr als zweihundert fröstelnde Christenmenschen, die sich im knöcheltiefen Matsch nasse Füße holten. Sie alle hatten in der viel zu kleinen Kirche keinen Platz mehr gefunden. Die meisten, die unter dem trüben Septemberhimmel standen, hatten gewusst, was sie erwartete und waren heute in Holzschuhen zur Messe gekommen, obwohl der sonntägliche Kirchgang gewöhnlich ein Anlass für sie war, ihre ledernen Schuhe vorzuführen, sofern sie welche besaßen.
Martin Grottkamp hatte sich in seine alten Militärstiefel gezwängt und spürte während der Predigt von Dechant Witte, wie sie sich allmählich mit Wasser vollsogen. Er hatte den Eindruck, dass es Sonntag für Sonntag mehr Menschen wurden, die während der Messfeiern draußen vor der Kirchentür standen. Als er sich dabei ertappte, wie er unter den Umstehenden vergeblich nach bekannten Gesichtern Ausschau hielt, bemerkte er, dass er nicht der einzige Gläubige war, dem es unter den gegebenen Umständen schwer fiel, das heilige Messopfer mit der gebührenden Andacht mitzufeiern.
Was hatte Pfarrer Witte kürzlich noch gesagt: »Wir müssen unbedingt recht bald mit dem Neubau beginnen, damit die Sterkrader nicht mehr und mehr vom Besuch des Gottesdienstes entwöhnt werden. Die Menschen brauchen nun mal christliche Lehre und christliche Ermahnung, und die bekommen sie nicht, wenn sie während der Sonntagsmesse den Altar nicht sehen und die Predigt nicht hören können.« Recht hatte er, der Herr Pfarrer.
Martin Grottkamp erinnerte sich an seinen Kommunionunterricht zurück und an ein Wort des jungen Kaplans Anton Witte, das ihm über all die Jahre im Gedächtnis geblieben war: »Wer am Sonntag die Kirchentür nicht findet, der wird an seinem Todestag die Himmelstür nicht finden.« Gelegentlich musste er den Herrn Pfarrer
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