Tod an der Ruhr
Ideen?«
»Er meint, im Königreich Preußen würde uns Arbeitern übel mitgespielt. Unser Dreiklassenwahlrecht sei das beste Beispiel dafür. Die Stimme eines jeden Bürgers müsse bei den Wahlen der Volksvertreter gleich viel zählen, hat er mir erklärt. Der Wert einer Wählerstimme dürfe nicht von der Höhe der gezahlten Steuern abhängig sein.«
»Also die Stimme vom Totengräber Fritzken Balthus soll genauso viel Gewicht haben wie die vom Hüttendirektor Haniel?«, versuchte Grottkamp zu verstehen.
Kerseboom nickte lachend. »So ähnlich stellt der Herr Banfield sich das wohl vor. Er glaubt, wir Arbeiter ließen uns unterbuttern. Nur durch unsere Arbeitskraft würde der moderne Industriestaat Preußen immer größer und mächtiger, meint er. Deshalb müssten wir genauso viel Einfluss auf die Geschicke des Staates nehmen können wie die reichen Leute. Er hat mich gefragt, warum es eigentlich keine Protestbewegung der Arbeiter gibt, gegen das Dreiklassenwahlrecht und für bessere Arbeitsbedingungen in der Industrie.«
Grottkamp zuckte zusammen, als aus der Krone des Baumes, unter dem die beiden Männer saßen, eine kleine, grüne Birne vor seine Füße fiel.
»Ich habe ihm gesagt, mit solchen Parolen könnte er in Sterkrade niemanden begeistern. Hier ginge es den meisten Menschen besser als je zuvor«, fuhr Kerseboom fort. »Dass wir im Grunde unseres Herzens alle noch niederrheinische Bauern sind, hat er darauf geantwortet. Wir hätten als Arbeiter nicht das geringste Klassenbewusstsein – was auch immer das heißen soll. Anderenorts seien die Industriearbeiter schon weiter als wir. In Duisburg, Mülheim, Ruhrort und Oberhausen gebe es schon Ortsgruppen des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins. Und der trete ganz energisch für bessere Arbeitsbedingungen und die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts ein.«
»Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein«, knurrte Grottkamp. »Davon habe ich schon einiges gehört und gelesen.«
»Ferdinand Lassalle hat ihn vor drei Jahren in Berlin gegründet.«
»Dieser Kerl, der in einem Duell ums Leben gekommen ist?« Grottkamp erinnerte sich vage.
Kerseboom nickte. »Im August 1864 war das. Es ging um eine Liebesaffäre, soviel ich weiß.«
»Da muss ein Mann doch verrückt sein, wenn er sich wegen einer Frau totschießen lässt«, murmelte Martin Grottkamp.
Kerseboom zuckte mit den Achseln. »Dieser Engländer jedenfalls, der ist verrückt«, meinte er.
»Mir scheint eher, dass er ein Aufwiegler ist, der Mister Banfield.«
»Ach was.« Kerseboom winkte ab. »Er ist ein junger Mann mit absonderlichen Ideen, und er hat es gerne, wenn ihm jemand zuhört. Aber eigentlich ist er nur hier, weil er etwas über die rasante Entwicklung der Industrie an der Ruhr schreiben will.«
»Schreiben?«, fragte Grottkamp erstaunt.
»Ja«, erklärte Arnold Kerseboom. »Für englische Zeitschriften. Er ist ein Journalist. Jedenfalls sagt er das.«
Strahlend, als seien sie gerade am Ziel all ihrer Lebensträume angekommen, standen Schwester Josephine und Schwester Laurentia auf dem Bahnsteig, während der Zug von Oberhausen nach Holland dampfend den Sterkrader Bahnhof in nordwestliche Richtung verließ.
Vor beinahe fünf Stunden waren die beiden Barmherzigen Schwestern in ihrem Mutterhaus in Münster aufgebrochen, waren zum Bahnhof marschiert und in den Zug nach Hamm eingestiegen. Nach einstündiger Fahrt waren sie in der Stadt an der Lippe angekommen, die zu einem bedeutenden Verkehrsknotenpunkt geworden war, seitdem sich dort die Linien der Westfälischen und der Köln-Mindener Eisenbahn kreuzten. In Hamm hatten sie lange auf einen Anschluss warten müssen. Sie hatten sich auf eine Bank vor das Bahnhofsgebäude gesetzt, ihre Brote gegessen und aufmerksam dem regen Treiben der Menschen zugeschaut.
Anschließend hatte der Schnellzug nach Köln sie in rascher Fahrt von Ost nach West mitten hindurch durch dieses fremdartige Industrieland zwischen Ruhr und Emscher getragen. Durch Unna und Dortmund waren sie gekommen, durch Bochum und Herne, durch Gelsenkirchen und Essen.
Die beiden Barmherzigen Schwestern hatten nicht aufgehört zu staunen über dieses von Fabrikhallen bedeckte Land, über Hochöfen und Fördertürme und über die unzähligen rauchenden Schlote, die sich himmelwärts reckten. Nicht viel hatten sie gesprochen während der gut eineinhalbstündigen Fahrt von Hamm nach Oberhausen. Schwester Josephine hatte hin und wieder leise ein Stoßgebet vor sich hin gemurmelt, und
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